Kock: Gesamte Gesellschaft muss soziale Einschränkungen tragen

Scheidender EKD-Ratsvorsitzender sieht «Koalition der Ratlosigkeit»

23. Oktober 2003


Köln (epd). In der ersten Novemberwoche wird bei der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Trier ein Nachfolger für den EKD-Ratsvorsitzenden Manfred Kock gewählt. Der 67-jährige Theologe blickt im epd-Interview auf seine sechsjährige Amtszeit zurück. Mit dem früheren rheinischen Präses sprach Thomas Schiller in Köln.

epd: Die Sozialreformen haben Sie in den letzten Monaten Ihrer Amtszeit beschäftigt. Sie haben im Grundsatz Verständnis für den Reformkurs der Bundesregierung geäußert. Versteht sich die Kirche immer noch als die Stimme der Schwachen in der Gesellschaft?

Kock: Es trifft zu, dass wir gesagt haben: Es muss sich etwas verändern und auch Einschränkungen hingenommen werden müssen. Die Schwachen würden als erste unter die Räder kommen, wenn die Sozialsysteme zusammenbrächen, weil sie unbezahlbar geworden sind. Daher muss man sich für Reformen, die mehr sind als nur Einsparungen zu einem Zeitpunkt entscheiden, an dem das System noch bewahrt werden kann. Wir haben aber auch immer deutlich gemacht, dass nicht nur auf der Seite der Schwachen gekürzt werden darf. Die gesamte Gesellschaft muss das tragen.

epd: Als Sie 1997 das Amt des Ratsvorsitzenden antraten, sagten Sie: «Diese Gesellschaft darf sich nicht an vier Millionen Arbeitslose gewöhnen.» Was sagen Sie heute?

Kock: Es gehört zu den schrecklichsten Entwicklungen in unserem Land, dass es nicht gelungen ist, mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Es liegt nicht allein an den politischen Rahmenbedingungen, sondern auch an fehlender Fantasie bei manchen Unternehmern, die meinen, ihre Firmen nur sanieren zu können, wenn sie Menschen entlassen.

epd: Welches Thema hat Sie als Ratsvorsitzender am meisten bewegt?

Kock: Am stärksten hat mich die Frage bewegt, wie unsere evangelische Kirche in der säkularen Gesellschaft die Traditionen des Glaubens weiter geben kann. Auch dann, wenn wir uns für Schwache in der Gesellschaft einsetzen und uns politisch etwa zu Fragen des Friedens äußern, muss sichtbar bleiben, aus welcher geistigen Wurzel heraus wir das tun.

epd: Die EKD hat Mitte Oktober eine Kirchenmitgliedschafts-Untersuchung vorgestellt. Neben einem Kern der Aktiven wird ein großer Teil von Mitgliedern beschrieben, die mehr Leistungen von der Kirche erwartet. Macht sich da ein Verbraucherverhalten breit?

Kock: Bei dem in der Untersuchung beschriebenen großen Teil der distanzierten Mitglieder geht es nicht nur um Konsumenten. Es handelt sich um Menschen, die durch ihre häusliche Erziehung oder durch den Religionsunterricht Impulse mitbekommen, die sie verinnerlicht haben. Dadurch ist ihr Bewusstsein für Recht und Unrecht geprägt, und sie wissen, dass sie auf einen gnädigen Gott angewiesen sind. Ich selbst stamme aus einem Milieu distanzierter Christlichkeit. Das ist keine Erfindung der Moderne, sondern das hat es im Protestantismus immer gegeben.

epd: Gehen Katholiken und Protestanten aufeinander zu oder verharren sie?

Kock: Wir sind wohl in einer Phase der Konsolidierung. Ich möchte nicht auf das evangelische Verständnis von Freiheit verzichten. Wir brauchen es für unsere Gesellschaft. Wir dürfen keine Prinzipienkirche bekommen, die ihren Respekt dadurch bezieht, dass sie Wertvorstellungen vermittelt, an die sich kein Mensch mehr hält.

epd: Die Prinzipientreue des Papstes geht bis zur Erfüllung seiner Amtspflichten mit allerletzter Kraft. Was empfinden Sie beim Anblick der Bilder aus Rom?

Kock: Er ist auf Lebenszeit gewählt. Es ist kann wahrscheinlich nicht aussteigen, ohne dass er den Eindruck erweckt, er gebe vorzeitig auf. Die katholische Kirche hat einen eingespielten Apparat in Rom, der regiert, ohne dass der Papst alles Einzelne überschauen muss.

epd: Hätten Sie etwas in Ihrer Amtszeit noch gern geschafft, das nun für den neuen Rat zu tun bleibt?

Kock: Es gibt nur ganz wenige Dinge, die in unseren kirchlichen Arbeitsfeldern abgeschlossen sind. Fast überall muss weiter gearbeitet werden. Das gilt zum Beispiel für den Bereich der Mission. Auch die ethischen Fragen am Ende und am Anfang des Lebens sind nicht abgeschlossen, da sind wir mitten in der Diskussion. Die Reform der Strukturen in unserer evangelischen Kirche muss ebenfalls weiter gehen. Für unsere Kirche ist eine immer währende Erneuerung und Selbstvergewisserung nötig. Vorläufig abgeschlossen ist aber doch einiges, zum Beispiel die Gestaltung der Militärseelsorge.

epd: Hat sich die politische Einflussmöglichkeit der Kirche beim Wechsel von der christlich-liberalen Koalition zur rot-grünen Regierung verändert und findet die Kirche genug Gehör?

Kock: Die Kirche ist nach wie vor Gesprächspartner für Regierung und Opposition. Die Menschen, die in unserer Kirche Verantwortung tragen, werden von vielen Politikern wahrgenommen. Es gibt ja in unserer Gesellschaft eine Koalition der Ratlosigkeit. Wir sind nicht die Besserwisser, sondern als Leute gefragt, die weder in der Ratlosigkeit versinkt noch in falsche Hektik geraten.

epd: Was waren Erfolge und Niederlagen in Ihrer Amtszeit?

Kock: Sehr froh bin ich, dass wir gemeinsam mit vielen Kirchen in Europa und Amerika Einmütigkeit in der Ablehnung des Irak-Krieges gezeigt haben. Dass der Krieg trotzdem stattfand, hat mich natürlich enttäuscht, denn wir haben - den Papst und die meisten amerikanischen Kirchen eingeschlossen - , es nicht geschafft, diesen Krieg zu verhindern.

epd: Was muss ein Ratsvorsitzender oder eine Ratsvorsitzende mitbringen?

Kock: Er darf es gar nicht werden wollen.

epd: Sie waren bis vor wenigen Monaten zugleich rheinischer Präses und Ratsvorsitzender der EKD. Hätten Sie sich eine Ämtertrennung und den Ratsvorsitz als Hauptamt gewünscht?

Kock: Von der zeitlichen Belastung her hätte ich mir das manchmal gewünscht. Aber sachlich wäre es unglücklich. Ich glaube, ein Ratsvorsitzender als freischwebende Kraft wäre ein König ohne Land - ein Mensch, der bei den Landeskirchen sehr leicht in den Ruf eines Apparatschiks käme.

epd: Was würden Sie ihrem Nachfolger oder Ihrer Nachfolgerin mit auf den Weg geben?

Kock: Der oder die braucht keine Ratschläge von mir. Wer in den Vorsitz des Rates der EKD gewählt wird, ist eine Person, die erfahren in der Leitung der eigenen Kirche ist, und sie wird wissen, wie dieser Zusammenhalt der Landeskirchen auf der Ebene der EKD befördert wird, welches Maß an Moderationsfähigkeit gebraucht wird und wo es nötig ist, voran zu gehen.

Quelle: Evangelischer Pressedienst (epd)