EKD-Ratsvorsitzender: "Wir brauchen mutige Reformen"

Kock fordert von der Politik Ausgewogenheit

26. Mai 2003


Manfred Kock, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, fordert von der Politik Ausgewogenheit

Die Welt: Bundespräsident Johannes Rau meint, die evangelische Kirche sei zu "kopflastig", sie treffe zu wenig die Seele der Menschen. Ein Widerspruch?

Kock: Das muss man differenziert sehen. Wir haben natürlich Gottesdienste, die von Anstrengungen an den Intellekt geprägt sind, und es gibt auf der anderen Seite welche mit viel Emotion. Das Problem ist immer der Wahrnehmungssektor. Die Klage, der Protestantismus sei sehr rational, ist alt. Ich meine allerdings, diese Rationalität ist auch seine Stärke. Es gibt viele Menschen, die eben nicht mit Weihrauchgerüchen und singenden Tanzschritten Gottesdienst feiern möchten, sondern die sich in eine klare Auseinandersetzung hineinbegeben wollen. Es ist anzuraten, dass man das, was man vermisst, auch sucht. Gerade auf dem Kirchentag gibt es vieles, was nicht primär mit dem Kopf zu tun hat, oftmals vielleicht sogar zu wenig.

Die Welt: Rau rät den Kirchen zu stärkerer Einmischung in die Politik. Haben sie sich denn politisch abstinent verhalten?

Kock: Johannes Rau hat in der Vergangenheit auch andere Worte gefunden. Er hat die Kirchen stets ermahnt, an ihrer ureigenen Sache festzuhalten, damit sie unverwechselbar bleiben. Insofern verstehe ich seine jetzige Mahnung als Ermutigung, sich nicht in eine isolierte Ecke abdrängen zu lassen und auch zu Fragen der Gestaltung des öffentlichen Lebens und des Staates Stellung zu nehmen.

Die Welt: Apropos Gestaltungsfragen: Haben Sie eine dezidierte Meinung zur Agenda 2010 des Bundeskanzlers?

Kock: Zu Einzelheiten dieses politischen Pakets habe ich natürlich keine dezidierte EKD-Meinung. Aber ich bleibe dabei: Wir müssen Mut zu Reformen einfordern. Da werden wir als Kirche nicht nachlassen. Nur: Hier stellt sich wieder das Wahrnehmungsproblem. Da, wo die Reformrichtung stimmt und diese Richtung von uns auch Bestätigung erfährt, wird uns entgegengehalten, wir verträten einseitige politische Positionen. Auf der anderen Seite hören wir, wir hätten unsere Positionen, wie sie etwa in dem Wirtschafts- und Sozialwort von 1997 niedergelegt worden waren, verlassen. Beides trifft nicht zu. Nochmals: Wir brauchen mutige Reformschritte. Wo sie von der Regierung gegangen werden, muss im Einzelnen geprüft werden, ob sie ausgewogen sind.

Die Welt: Konkret, wie muss eine solche Reform aussehen?

Kock: Wir werden nicht darum herumkommen, soziale Besitzstände einzuschränken. Dabei muss allerdings das Ziel erkennbar sein, dass mit einer solchen Politik soziale Gerechtigkeit bewahrt und nicht demontiert wird.

Die Welt: Zunächst schien es, der Irak-Krieg würde den Kirchentag dominieren. Wird jetzt die Frage "Wie geht es weiter mit den Sozialsystemen und der Gesellschaft in Deutschland?" das große Thema?

Kock: Ich halte das für möglich. Es wäre gut und wichtig, weil wir diese Diskussion in unserer Gesellschaft brauchen. Es gibt ja die Einschätzung, dass die politisch und ökonomisch handelnden Kräfte nicht mehr in der Lage sind, die durch die veränderten, auch demographischen Bedingungen entstandenen Verwerfungen in unserer Gesellschaft in den Griff zu kriegen. Das darf nicht so bleiben. Wenn diese Diskussion geführt werden könnte, dann ist auch der Kirchentag dafür ein gutes Forum. Natürlich sollte man sich nicht in Detailfragen verlieren, es muss um die große Richtung gehen.

Die Welt: Der Ökumenische Kirchentag gilt als "Vorhof" der Einheit der Christen. Aber selbst dieser Vorhof ist mit Stolpersteinen gepflastert. Oder?

Kock: Die Enzyklika des Papstes zur Eucharistie hat wieder gezeigt, dass wir in einem Dissens über das Amtsverständnis der Kirchen leben. Ich finde es gut, dass diese Frage auf dem Tisch liegt. Und ich denke, dass auch auf dem Kirchentag darüber diskutiert wird. Das wäre eine erfreuliche Sache.

Die Welt: Das Ökumenische Pfingsttreffen 1971 in Augsburg war der Vorläufer dieses Kirchentages. Die Fragen von Augsburg sind auch die Fragen von Berlin 2003. Ist der Konfessionalismus zurückgekehrt und verhindert Schritte zur Einheit?

Kock: Ich glaube nicht, dass der Konfessionalismus zurückgekehrt ist. Es ist vielmehr das Bewusstsein dafür gewachsen, dass man auf dem Weg zur redlichen Einheit nur über die Klarheit der eigenen Identität vorankommt. Ich halte wenig davon, dass wir alles in einen Topf werfen und durcheinander rühren. Wir brauchen keine Kirche, die ihre Konturen verwischt. Wir brauchen eine Kirche in ihrer Vielgestaltigkeit. Und ich glaube nicht, dass wir in eine neue Eiszeit hineingeschlittert sind. Wir warten nach einem ökumenischen Frühling auf einen ökumenischen Sommer.

Die Welt: Den Kirchen wird allenthalben "Langweiligkeit" bescheinigt. Brauchen sie Events?

Kock: Ich glaube nicht, dass Events die Kirchen attraktiver machen. Sie werden nur attraktiver durch redliche Verkündigung und eine verständliche Sprache. Es gibt einen Hunger nach Alternativen zu der Oberflächlichkeit unserer Gesellschaft. Und diesen Hunger gilt es zu stillen!

Die Welt: Die Zahl nicht kirchlich gebundener Menschen wächst, ebenso die Zahl der Areligiösen. Brauchen wir auch eine Ökumene mit den Areligiösen?

Kock: Ich gehöre nicht zu den Menschen, die Säkularisierung und Nichtzugehörigkeit zu einer Kirche für die große Katastrophe halten. Im Gegenteil, es ist eine große Chance, wieder zu unserer Sache zu kommen und sich nicht in Vorurteilen zu verlieren.

Die Welt: Auch ein Ereignis wie der Kirchentag scheint ohne Stars nicht auszukommen. In diesem Fall ist es der Dalai Lama. Ein Zeichen, dass die Christen keine eigenen attraktiven Personen haben?

Kock: Der Dalai Lama ist eine eindrucksvolle Persönlichkeit. Aber ich glaube nicht, dass er zum Guru der Protestanten und Katholiken wird.

Die Welt: Keine Gefahr der Religionsvermischung?

Kock: Das ist abwegig. Der Kirchentag ist doch keine Sammlung von Bekenntnisakten. Er ist das Zusammensein von Menschen mit Fröhlichkeit, mit Fragen, mit Neugier. Dazu gehört auch die Erfahrung mit anderen Religionen. Wenn es gelänge, zu üben, dass wir mit unterschiedlichen religiösen Herkünften zu leben haben, dann wäre auch das etwas Positives. Die Anfechtung kommt ja nicht durch fremde Religionen. Sie kommt durch den Mangel an eigenem Identitätsbewusstsein der Christen. Ich halte nichts davon, suchende Teilnehmer des Kirchentags von vornherein durch Orthodoxie, also Rechtgläubigkeit, zu füttern. Das würde die Tür zur Auseinandersetzung verschließen. Das würde auch der Realität des Evangeliums widersprechen.

Interview: Gernot Facius


Quelle: Die Welt vom 26. Mai