Die eigenen Kräfte stärken

Jeder hat das Recht und die Pflicht, sein Leben selbst zu gestalten

02. Februar 2004


Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, hat einen gesellschaftspolitischen Beitrag in "Vorwärts" (Ausgabe vom 01. Februar 2004) geschrieben, der hier im Wortlaut dokumentiert wird:

Sinnbild der Rechtsprechung und bis heute Fassadenschmuck vieler Gerichte ist die Justitia - eine Frauengestalt, die immer mit zwei Attributen ausgestattet ist: Einer Waage, in der die beiden streitenden Meinungen gegeneinander abgewogen werden, und einer Augenbinde, die ihre Blindheit andeutet: Justitia soll ihr Urteil ohne Ansehen der Person fällen. Beides macht deutlich, dass Gerechtigkeit immer auch eine Beziehungsfrage und deshalb auch eine Gestaltungsaufgabe ist: So sehr ein Konsens besteht, dass es einen  menschlicher Willkür entzogenen Maßstab "Gerechtigkeit" gibt, so sehr ist doch auch deutlich, dass der Inhalt dieser Gerechtigkeit im Einzelnen nicht naturrechtlich vorgegeben ist, sondern gemeinsam gestaltet werden muss.

Wann sind menschliche Beziehungen und damit gesellschaftliche Verhältnisse gerecht? Wenn sie solidarisch, subsidiär organisiert und auch in einem weiteren Sinne nachhaltig sind.

Solidarität begründet sich nach meiner Überzeugung darin, dass alle Menschen gleichermaßen Gottes Ebenbilder sind und als seine geliebten Kinder als Geschwister in eine verpflichtende Gemeinschaft untereinander gestellt sind. Solidarität meint also vor allem den Zusammenhalt von Menschen in unterschiedlichen Situationen, der die Bewältigung von Belastungen gemeinschaftlicher und individueller Art ermöglichen soll. In einer solidarischen Gesellschaft wird eine Balance zwischen Reichen und Armen, zwischen Starken und Schwachen gesucht. Dabei geht es nicht um mechanische Gleichmacherei; der Ausgleich zielt vielmehr darauf, dass die eigenen Kräfte gestärkt werden, dass Lebensrisiken gemeinsam getragen und dass die Schwachen ein menschenwürdiges Leben führen können. Die Balance zwischen Arm und Reich, zwischen Stark und Schwach ist in unserer Gesellschaft bislang einigermaßen gewahrt, an manchen Stellen aber auch schon deutlich strapaziert. Eine konsensfähige Balance trägt zur Wirtschaftskraft unseres Landes bei und kennzeichnet die Kultur unseres Zusammenlebens. Leider können wir von einer solchen Balance nicht einmal ansatzweise sprechen, wenn wir den Blick über die Grenzen Deutschlands und erst recht über die Grenzen Europas hinaus richten. Bei allen notwendigen Diskussionen bei uns dürfen wir nicht die zentrale Aufgabe der internationalen Solidarität und damit der Annäherung an Gerechtigkeit in der Welt vergessen.

Solidarische Beziehungen müssen subsidiär organisiert werden: Es ist nicht zuletzt das christliche Menschenbild, das die Gottebenbildlichkeit und gerade deshalb den Wert und die unantastbare Würde jedes einzelnen Menschen betont. Aus ihr heraus wachsen das unaufgebbare Recht und damit aber auch die Pflicht, das eigene Leben soweit wie möglich selber zu gestalten und selber zu verantworten. Selbstverständlich finden diese Pflicht und dieses Recht ihre Grenzen an der solidarischen Verantwortung füreinander. Aber auch da, wo gegenseitige Hilfe nötig ist, soll diese so subsidiär wie möglich gestaltet werden: Gerade die Erfahrungen mit dem diakonischen Engagement der Kirchen zeigen, dass Hilfe umso wirkungsvoller ist und auch umso bereitwilliger geleistet wird, je näher sich die an ihr Beteiligten stehen. Denn dann können Hilfeleistende und Hilfeempfangene Ursache und Wirkung des Problems und der Hilfe jeweils unmittelbar erkennen.

Auch der Gedanke der Nachhaltigkeit ist ein zutiefst biblischer und damit christlicher Gedanke. Weil wir Menschen uns in eine weit über unseren Lebensraum und unsere Lebenszeit reichende Verantwortung vor Gott gestellt wissen, weil wir vertrauen, dass nach uns gerade nicht die Sintflut kommt, sind wir dazu befreit, nicht nur um uns selber zu kreisen und alle Ressourcen für uns zu verbrauchen, sondern so zu leben, dass wir es vor unseren Mitmenschen und der ganzen Schöpfung, vor allem aber auch vor den nach uns Kommenden verantworten können. Hier scheint mir eine der wichtigsten Herausforderungen für die aktuelle Diskussion in Deutschland zu liegen: Wie können wir unseren Lebensstil und insbesondere unsere sozialen Sicherungssysteme so gestalten, dass sie das Kriterium der Nachhaltigkeit erfüllen? Angesichts des sich abzeichnenden demographischen Wandels liegen hier große Gestaltungsaufgaben, an die wir möglichst schnell und möglichst umfassend herangehen sollten.