Statement zur Pressekonferenz zum Wort des Rates der EKD zur Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise

Wolfgang Huber

02. Juli 2009


„Ist der Markt noch zu retten?“ fragt der Ökonom Peter Bofinger in seinem neuen Buch. Die Finanzkrise, sagt er, habe die „ungeheuer selbstzerstörerischen Kräfte eines weitgehend unregulierten Marktsystems“ gezeigt. Nun kündigt „Cicero“ in seiner Juli-Ausgabe bereits das Ende der Krise an: Die Talsohle sei durchschritten, die Frühindikatoren zeigten schon den nächsten Aufschwung an. Wenn das stimmt, bleibt nur noch die Frage, ob wir aus der Erschütterung irgendetwas gelernt haben. Noch ist nicht ausgemacht, ob internationale Kontrollinstitutionen so ausgebaut und ausgestattet werden, dass sie mit der Dynamik der globalen Finanzmärkte Schritt halten.

Während all das noch ungewiss ist, lassen sich die Töne nicht überhören, die nach einem „weiter so“ klingen. Unvermindert hohe Renditeziele werden angesagt, die nur bei einem entsprechend hohen Anteil von riskantem Investmentbanking erreichbar sind. Zugleich besteht für viele Unternehmen die Gefahr, von der Wirtschaftskrise mitgerissen zu werden. Für viele Beschäftigte bleibt es noch völlig in der Schwebe, ob nach der Phase der Kurzarbeit Entlassungen bevorstehen.

Vor einem Jahr habe ich hier die Denkschrift „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“ vorgestellt, in der wir bereits stärkere Regulierungen an den Finanzmärkten gefordert haben. Die Diskussion, die seit dem Beginn der Finanzmarktkrise über diese Denkschrift geführt wurde, hat unsere zentralen Thesen bestätigt. Die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft sind zu lange ins Hintertreffen geraten. Wenn sie jetzt wieder in Erinnerung gerufen werden, ist die Selbstkritik die dafür angemessene Tonlage. Man hat die Grundlagen unserer Wirtschaftsordnung zu Unrecht vernachlässigt und deren moralische Grundlagen außer Acht gelassen.

Ein Mangel an Verantwortungsbewusstsein hat maßgeblich zur aktuellen Krise beigetragen. Deshalb brauchen wir jetzt nicht nur einen Konjunkturaufschwung, sondern auch einen Werteaufschwung. Wir brauchen nicht nur eine Erneuerung der unternehmerischen Initiative, sondern vor allem eine Erneuerung der Verantwortung. Wir brauchen nicht nur neue Regeln für die Finanzmärkte, sondern auch neue Regeln für das persönliche Verhalten in Wirtschaft und Gesellschaft.

Das Fundament unserer Wirtschaftsordnung ist verantwortete Freiheit. Freiheit ohne Verantwortung verkommt. Eigennutz als Triebkraft der Marktwirtschaft braucht die Verpflichtung auf das Gemeinwohl. Wenn die gesamte Lebenswirklichkeit dem Gewinnstreben unterworfen wird, verkehrt sich der ökonomische Nutzen in einen Verlust an Lebenswert. Der gesellschaftliche Wohlstand sinkt, das Gemeinwohl zerfällt, die Umweltzerstörung nimmt zu, die Lasten für die kommenden Generationen werden übermächtig.

Der Rat der EKD sieht darin ein Warnzeichen: Ein „Weiter so!“ wäre katastrophal. Deshalb legen wir heute eine Schrift vor, die sich auf ein prophetisches Wort bezieht. Ihr Titel „Wie ein Riss in einer hohen Mauer“ spielt auf ein Wort aus dem Jesajabuch (30, 13) an, in dem der Prophet sein Volk vor dem Verhängnis warnt. Verzweifelt versucht der Prophet, seinen Adressaten die Augen zu öffnen. Er erinnert an die Gebote Gottes, die kaum noch einer beachtet. Doch das „Weiter so!“ erscheint als bequemer.

Gilt das auch heute? Wer bereit ist hinzusehen, erkennt: Der wachsende Berg der Staatsschulden, die mit der gegenwärtigen Krise aufgehäuft werden, wird vor allem die nächsten Generationen massiv belasten. Zugleich werden auch die sozialen Sicherungssysteme beeinträchtigt, die Deutschland in dieser Krise robuster gemacht haben als andere Länder.

In einer Situation, in der die einen schon wieder von neuen Gewinnen träumen und die anderen mit erheblichen Einschränkungen rechnen müssen, halte ich eine Debatte über die Zukunft unserer Wirtschaftsordnung für dringend geboten. Das gilt nicht nur im Blick auf unser Land; denn der Einfluss der nationalen Politik hat angesichts der Globalisierung abgenommen. Es gilt auch im Blick auf das Zusammenspiel der großen Wirtschaftsmächte und das Verhältnis zwischen den überschuldeten Ländern und ihren Gläubigern. Die Stimmen unserer Partnerkirchen im Süden dieser Erde mahnen uns, die Situation mit den Augen der Ärmsten zu sehen.

Der neue Text des Rates der EKD stellt die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise in diesen Zusammenhang und knüpft bis hin zum Titel an eine frühere Stellungnahme zum Klimawandel an. So wird deutlich: Es geht um weit mehr als um Krisenmanagement. Konjunkturpolitische Maßnahmen und die Regulierung der Finanzmärkte sind wichtig. Darüber hinaus geht es aber um einen grundlegenden Wandel. Wir halten in zehn Orientierungspunkten fest, worauf es dabei national und international ankommt. Wir müssen die tragenden Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft wieder ins Bewusstsein rufen und angesichts der Herausforderungen nachhaltigen Wirtschaftens weiter entwickeln. Wir brauchen tragfähige globale Rahmenbedingungen und Kontrollinstanzen für ein soziales und nachhaltiges Wirtschaften – auch und zuerst im Kontext der Europäischen Union. Wir müssen die Kosten der Krise möglichst gerecht verteilen. Wir brauchen Schritte zu nachhaltigem Wirtschaften; politische Initiativen in dieser Richtung begrüßen wir ausdrücklich.

Nur so lässt sich neues Vertrauen in unsere Wirtschaftsordnung aufzubauen. Dieses Vertrauen lebt davon, dass die Entscheidungsträger bereit sind, Verantwortung zu übernehmen – auch für Fehleinschätzungen der Vergangenheit. Vertrauen lebt davon, dass sie den Mut haben, den Bürgern die Wahrheit zu sagen, auch im Blick auf künftige Belastungen. Denn nur so lässt sich die Bevölkerung davon überzeugen, dass es gerecht zugeht, wenn Einschränkungen notwendig werden. Auch in dieser Hinsicht gilt, dass Freiheit ohne Verantwortung und ohne Gerechtigkeit sich selbst zerstört. Im Geburtstagsjahr von Johannes Calvin will ich das mit einem Satz von Johannes Calvin unterstreichen: „Wir sollen von unserer Freiheit Gebrauch machen, wo sie zur Auferbauung des Nächsten dient; wenn es aber dem Nächsten nicht dient, so sollen wir auf sie verzichten.“

Verantwortung bedeutet, aus der Krise zu lernen und im Sinn nachhaltigen Wirtschaftens umzusteuern. Hoffnung schöpfe ich aus einem neuen Interesse an ethischen Maßstäben wirtschaftlichen Handelns, aus ernsthaften Diskussionen über die Zukunft unserer Wirtschaftsordnung, aus drängendem Nachfragen nach politischen Rahmenbedingungen der Globalisierung. Ermutigen möchte ich diejenigen Politikerinnen und Politiker, die weiter schauen als bis zum nächsten Wahltermin, und ebenso die Verantwortlichen in der Wirtschaft, die weiter schauen als bis zum nächsten Quartalstermin. Der entscheidende Impuls für unser Wort zur Finanz- und Wirtschaftskrise aber ist die biblische Einsicht, dass Umkehr möglich ist, wenn wir unser Vertrauen auf Gott setzen.

Der Text, den wir Ihnen heute vorstellen, beginnt mit einer prophetischen Warnung. Aber er schließt mit der prophetischen Verheißung eines bewässerten Gartens, einer Zukunft in Gerechtigkeit. Für alle, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, hat diese Verheißung einen Namen: „Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne.“ In der Krise steckt dann eine Chance, wenn wir die Warnung nicht überhören, wenn wir umkehren und uns neu ausrichten. Dafür treten wir als Kirche ein. Und darin sehen wir die Aufgabe von Politik und Wirtschaft.