Einleitendes Votum bei der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht zum Berliner Ladenöffnungsgesetz

Wolfgang Huber

23. Juni 2009


„Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn.“ So lautet die Begründung der Sabbatheiligung in den zehn Geboten. Nach sechs Tagen Arbeit wird das Werk Gottes durch einen Tag der Ruhe und der Heiligung, durch einen Feiertag vollendet. Und so soll es auch das Volk Gottes halten. Darauf beruht das Gebot: „Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest“ (2. Mose 20, 8 ff.).

Seit den Anfängen der Christenheit ist der Sonntag als Tag der Auferstehung Jesu Christi an die Stelle des Sabbattags getreten. Er prägt nun den Rhythmus der Woche im Gegenüber zu den sechs Werktagen: An den sechs Werktagen sollen wir alle unsere Werke tun, den Sonntag aber heiligen.

Den Sonntag heiligen heißt: sich öffnen für die Teilhabe an Gottes Heiligkeit. Es bedeutet, diesen Tag aus dem Alltag herauszuheben. Der ganze Tag soll im Gegenüber zur werktäglichen Beschäftigung ein eigenes Gepräge erhalten. Für die persönliche Lebensführung wie für das gemeinsame Leben ist das ein wichtiges Element der Lebenskultur. Es macht deutlich, dass der Mensch nicht nur durch Arbeit und Leistung definiert ist. Der Tag der kollektiven Arbeitsunterbrechung gibt Raum für die Frage, was im Leben wirklich trägt. Der Sonntag gewährt Zeit für Erholung und schöpferischen Neuanfang, für persönliche Besinnung und Gemeinschaft mit anderen.  Der Gottesdienstbesuch ist nach christlicher Auffassung in der Heiligung des Feiertags ein wichtiges, sinnstiftendes Element; aber die prägende Bedeutung der Muße am Sonntag für den Rhythmus der Woche gehört zum religiösen Sinn dieses Tages unlöslich hinzu. Das biblische Gebot bezieht deshalb gerade auch die abhängig Beschäftigten – den Knecht, den Fremdling – in die kollektive Arbeitsunterbrechung ein, die für diesen Tag der Arbeitsruhe vorgesehen ist.

Unsere Gesellschaftsordnung hat den wöchentlichen Wechsel zwischen den Werktagen und dem Sonntag nicht hervorgebracht; sie hat vielmehr diesen „Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ vorgefunden. Der arbeitsfreie Sonntag leitet sich aus einer Jahrhunderte, ja Jahrtausende umfassenden Tradition her, die bereits in einem Edikt Kaiser Konstantins des Großen im Jahr 312 rechtliche Anerkennung fand. Diese Tradition hat das religiöse, soziale und kulturelle Leben nachhaltig geprägt. Sie ist in unserem Land bewahrt worden, ohne dessen wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zu schmälern. Wegen der prägenden Bedeutung des Sonntags für das Gemeinwesen vertraut unsere Verfassungsordnung die Gewährleistung dieses Verfassungsguts dem besonderen Schutz des Staates an. Der Gesetzgeber ist an diese Schutzpflicht gebunden. Ausnahmen bedürfen einer besonderen Begründung und dürfen nicht die Pflicht zum Schutz des Sonntags außer Kraft setzen.

In Erfüllung ihres Auftrags leisten die Kirchen ihren eigenständigen Beitrag dazu, den Sonntag als „Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ zu gestalten. Die Gemeinschaft in jeder christlichen Kirche ist bestimmt durch die gemeinsame Ausübung der christlichen Religion. Wenn es zu einer Verletzung des Sonntagsschutzes kommt, sind die Kirchen davon unmittelbar betroffen. Denn sie werden dadurch in der Ausübung ihres Auftrags behindert, dem sie – geschützt durch die institutionelle Religionsfreiheit – nachgehen.

Der Auftrag der Kirchen zur Gestaltung des Sonntags hat in der Feier des Gottesdienstes sein Zentrum; aber er ist nicht auf die Gottesdienste beschränkt. Er erstreckt sich vielmehr auf eine Fülle von religiös motivierten Veranstaltungen über den ganzen Tag. Auch Gottesdienste werden im Übrigen nicht nur vormittags, sondern auch am Nachmittag und Abend gefeiert. Die vielfältigen kirchlichen Angebote am Sonntag gelten zuallererst den Kirchenmitgliedern, aber nicht nur ihnen allein, sondern der ganzen Gesellschaft.

Viele Menschen engagieren sich ehrenamtlich in der Kirche. Ihre Mitwirkung an kirchlichen Veranstaltungen ist für sie selbst Teil ihrer „seelischen Erhebung“; und sie öffnet anderen dafür die Tür. Beispielhaft seien hier die Mitglieder von Posaunenchören und Kirchenchören oder die Helferinnen und Helfer bei der Organisation von Gemeindefesten genannt. Bei einer Einebnung des Unterschieds zwischen Sonntag und Werktag gehen kollektive Freiräume für ehrenamtliches Engagement – nicht nur, aber auch, ja gerade in den Kirchen – verloren. Das beeinträchtigt die Kirchen in der Ausübung ihres Auftrags.

Aus Seelsorgeerfahrungen wissen wir, wie sehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter dem Konflikt leiden, sich sonntags zwischen ihrer Berufsausübung und der Pflege ihrer religiösen Bedürfnisse oder ihrer sozialen Kontakte entscheiden zu müssen.

Das Berliner Ladenöffnungsgesetz reizt die Geschäftigkeit an Werktagen rund um die Uhr, auch an Samstagen, aus. Für die im Handel Beschäftigten bleibt während der Woche kein verlässlicher Freiraum für gemeinsame Zeiten in Familie und Freundeskreis, für kirchliches, soziales oder kulturelles Engagement. Umso wichtiger ist es, den Sonntag als Tag der Arbeitsruhe so umfassend wie möglich zu schützen. Dieser Aufgabe wird das Berliner Ladenöffnungsgesetz mit seiner Erlaubnis zur Ladenöffnung an zehn Sonntagen im Jahr nicht gerecht.

Eine besondere Bedeutung hat die Adventszeit. Sie ist eine Zeit der Erinnerung und der Erwartung, der Vorbereitung auf das Gedenken der Geburt Jesu Christi und der Buße zu Beginn des Kirchenjahrs, das mit dem Ersten Advent beginnt. Schon jetzt unterliegt die „Vorweihnachtszeit“, wie man stattdessen häufig sagt, einer sehr weitgehenden Beherrschung durch den Kommerz. Die Frage, was gefeiert wird und wie das geschehen soll, tritt dahinter in erheblichem Maß zurück. Die Möglichkeit, den Advent im christlichen Sinn angemessen zu gestalten, verdichtet sich deshalb weitgehend auf die Adventssonntage. In einer Reihe von Bundesländern wird deshalb die Ladenöffnung für die Adventssonntage generell ausgeschlossen. Im Berliner Ladenöffnungsgesetz geschieht das genaue Gegenteil, indem es alle Adventssonntage für die Ladenöffnung freigibt. Damit greift es in eklatanter und gravierender Weise in den kirchlich geprägten Jahreslauf und den zu ihm gehörenden Festkalender ein. Ausgerechnet in dieser Zeit gibt es in Berlin keinen geschützten Sonntag mehr. Das Weihnachtsfest als Motor des Handels zu nutzen, den besonderen Charakter der Adventssonntage aber mit solcher Gleichgültigkeit zu übergehen, zeugt von einem beunruhigenden Mangel an religiöser wie kultureller Achtung.

Regelungen dieser Art entwickeln jeweils eine Sogwirkung auf angrenzende Länder. Diesem Sog muss Einhalt geboten werden. Im Sinne des Sonntagsschutzes kann die Ladenöffnung am Sonntag nur die aus besonderen Gründen gerechtfertigte Ausnahme sein; das durch die grundgesetzliche Vorgabe geschaffene Regel-Ausnahme-Verhältnis zu Gunsten der sonntäglichen Arbeitsruhe darf nicht Schritt für Schritt umgekehrt werden.

Weitgehende Ladenöffnungen an Sonn- und Feiertagen, vor allem in besonderen Festzeiten wie dem Advent, entziehen den christlichen Kirchen wichtige Voraussetzungen dafür, ihrem Auftrag nachzukommen, und hindern die Menschen an der seelischen Erhebung. Sie höhlen ein prägendes, vom Verfassungsgeber ausdrücklich als schützenswert anerkanntes  Kulturgut aus. Angesichts der – gerade in Berlin – sehr weitgehend möglichen Ladenöffnung an Werktagen ist eine Begründung für die Aushöhlung dieses Gutes nicht ersichtlich.

Hoher Senat, wir erhoffen uns von Ihrer Entscheidung, dass verlässliche Grenzen aufgezeigt werden und die sonst drohende Aushöhlung des Sonntagsschutzes beendet wird.

Bischof Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber