"Wir sind Kirche und nicht die besseren Wirtschaftssachverständigen"

Kirchenamtspräsident Barth zu Wirtschaftskrise, Reformprozess und Themen der nächsten Ratsperiode

28. Januar 2009


Frankfurt a.M. (epd). Der Präsident des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Hermann Barth, hat empfohlen, dass angesichts der Wirtschaftskrise die Kirche ihrem geistlichen Auftrag stärker nachkommt. "Wir sind Kirche und nicht die besseren Wirtschaftssachverständigen", sagte er in einem epd-Interview. Auch sollte man sich nicht als "Kassandra" aufspielen. Die evangelische Kirche müsse sich allerdings fragen, was das "rechte Wort" zur labilen wirtschaftlichen und sozialen Lage sei. Seelsorge für Menschen, die unter der Unsicherheit handeln müssten, sei dringlicher, als sich zur Höhe des Steuersatzes oder der Sozialleistungsquote zu äußern. Barth äußerte sich weiter zu den Themen der nächsten Ratsperiode und dem EKD-Reformprozess. Mit dem Kirchenamtspräsident sprach Rainer Clos.

epd: Vor der evangelischen Kirche liegt ein Jahr des Übergangs. Was ist der Grundton dabei? Was kommt denn auf die Kirche zu?

Hermann Barth: Wenn man die Zukunft immer im Voraus wüsste, würde es einem gar nicht gut gehen. Gott wird auch 2009 Überraschungen für uns parat haben, schmerzliche und erfreuliche. Die Gesamtbilanz wird am Ende heißen: "Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch."

Der Jahreswechsel war diesmal seltsam getrübt. Man redete von einem neuen Jahr, in dem wir die größte Rezession der Nachkriegszeit erleben werden. Die Arbeitslosenziffern, so hieß es, würden spürbar ansteigen, und der ganze Wirtschaftsprozess gerate ins Trudeln. Gewiss, das sind nicht bloße Angstphantasien, es sind alles ernsthafte Möglichkeiten. Aber wenn es stimmt, dass die Wirtschaft viel mit Psychologie zu tun hat, dann muss man sich hüten vor den Prophezeiungen, die sich selbst erfüllen - weil sie nämlich herbeiführen, was sie als Möglichkeit beschreiben. Wir können heute alle nicht sagen, wie es kommt, und es ist gut, dass es dazu mehr als eine Meinung gibt.

Der Grundton, mit dem man getrost und unverzagt in ein neues Jahr gehen kann, ist am schönsten getroffen in Paul Gerhardts Lied zur Jahreswende: "Gelobt sei deine Treue, die alle Morgen neue. Lob sei den starken Händen, die alles Herzleid wenden."

epd: Verbreitet die Kirche ausreichend Zuversicht angesichts der Verwerfungen, die sich abzeichnen?

Barth: Zuversicht heißt ja nicht, es wird alles gut. Zuversicht heißt, dass ich in die Zukunft gehe in der Gewissheit: Nichts, wirklich gar nichts kann mich irre machen daran, dass Gottes Liebe mich trägt und er mir beisteht. Es kann mir alles Mögliche zustoßen, ich kann verunglücken, ich kann schwer erkranken, ich kann Geld an der Börse verlieren, es können Freundschaften zu Bruch gehen - das kann alles sein. Aber es ist nicht in der Lage, mir das zu rauben, was mein Herz zur Ruhe kommen lässt und meiner Seele einen festen Halt gibt. Das meine ich mit Zuversicht.

epd: Wenn wir uns der konkreten Situation für die evangelische Kirche zuwenden: Das Verbindungsmodell von EKD, Lutheranern und Unierten wird nun komplett umgesetzt. Ist die angestrebte Bündelung der Kräfte schon spürbar?

Barth: Wenn angestrebte Bündelung der Kräfte meint, dass jetzt die Ernte eingefahren wird, dann muss man ein bisschen die Euphoriebremse betätigen und sagen: Wir haben wohl die Voraussetzungen verbessert, um mehr gemeinsam zu tun und die Ressourcen zu bündeln. Wir haben den Anfang gemacht, aber es wird noch geraume Zeit dauern, bis das Verbindungsmodell seine volle positive Wirkung entfaltet. In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach der Überwindung der Ost-West-Konfrontation war häufig, vor allem im Blick auf den Balkan, von der zu erwartenden Friedensdividende die Rede. Sie fiel dann geringer aus, als man sich erhofft hatte. Hoffentlich geht es uns mit dem Verbindungsmodell nicht genauso. Die Dividende aus dem Verbindungsmodell muss so groß ausfallen, dass es gelingt, die Zögerlichen mitzunehmen auf dem Weg. Im Prinzip bin ich da optimistisch. So zeichnen sich bedeutsame Schritte etwa bei der angestrebten größeren Gemeinsamkeit in der Rechtssetzung ab; ich nenne das gemeinsame Disziplinarrecht und das gemeinsame Pfarrerdienstrecht. Aber ich stehe auf der Euphoriebremse, wenn es um Prognosen geht, in welchem Zeithorizont das passiert. Das sind eher längere als kürzere Prozesse.

epd Wo klemmt es denn?

Barth: Was heißt "klemmt"? Im Kirchenamt der EKD haben wir von 1984 bis weit in die 90er Jahre erlebt, was es bedeutet, wenn eine große Organisationseinheit, im konkreten Fall das Kirchliche Außenamt, umzieht, und zwar von Frankfurt am Main nach Hannover - widerstrebend, widerwillig, genötigt, jedenfalls nicht mit Begeisterung. Es hat viele Jahre gedauert, bis wir an den Punkt gekommen sind, an dem die Früchte der Zusammenführung geerntet werden konnten - aber es bleibt festzuhalten: Die Ernte kam, reichlich.

Wenn das schon zwischen zwei Organisationseinheiten der EKD so lange Zeit braucht, wie viel mehr dann erst zwischen Organisationen, die zwar aus derselben Wurzel stammen, aber sich in Aufbau und Arbeitsschwerpunkten erheblich unterscheiden. Da wäre es doch kein Wunder, wenn es dort mindestens so lange dauert. Deshalb werbe ich um Geduld. Wir brauchen einen langen Atem, wir brauchen Beharrlichkeit und immer wieder auch die kleinen und großen Erfolgserlebnisse. Damit man sieht, der Weg lohnt sich.

epd: Nun wird sich im Mai die Synode erstmals unter dem neuen Modell versammeln. Wie muss man sich das vorstellen?

Barth: Bei den konstituierenden Tagungen in Würzburg werden die Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), die Vollkonferenz der Union Evangelischer Kirchen (UEK) und die Synode der EKD ihre Versammlungen zusammen abhalten. Zusammen und doch jeder für sich und in eigener Verantwortung. Man kann geradezu einen Ausdruck aus der Welt der Literatur und des Theaters bemühen: Die Versammlungen finden in einer "Einheit des Ortes und der Zeit" statt. Dies geschieht in dem knappen, kompakten Zeitraum zwischen dem 30. April und dem 3. Mai. Dabei ist eine Tagesordnung zu bewältigen, die für große Themen, soweit sie nicht mit der Konstituierung und den Wahlen zu tun haben, wenig Zeit lässt.

Den Normalfall werden wir erst mit der Tagung im November 2010 erreichen. Das ist gar nicht schlecht. Durch die Kurzsynode zur Konstituierung im Mai und die Tagung mit der Ratswahl im Oktober 2009 ergibt sich eine Eingewöhnungszeit in die neue Struktur. Das schafft Raum für einen Lernprozess.

Bei der praktischen Vorbereitung der konstituierenden Tagung - das kann gar nicht anders sein - ist im Moment alles das erste Mal. Das ist vergleichbar mit der Situation, wenn man in der Gemeinde seine erste Pfarrstelle antritt. Zunächst ist alles ein erstes Mal - Taufe, Konfirmation, Goldene Konfirmation, Beerdigung, Gemeindefest usw. Wenn man das dann ein zweites Mal macht, erfolgt mit jeder Wiederholung eine stärkere Entwicklung von Routine, und zwar Routine im positiven Sinn: dass man Sicherheit gewinnt und nicht aus der Ruhe zu bringen ist.

epd: Wie ist der Stand der Berufungen der Synodalen durch die EKD?

Barth: Die Berufungen sind noch auf dem Wege, da einige Landeskirchen gerade in diesen Tagen erst ihre Vertreter in der EKD-Synode und der Generalsynode der VELKD gewählt haben. Man kann die Berufungen selbstverständlich abschließend erst beraten und beschließen, wenn die Zusammensetzung aufgrund der Wahlen aus den Gliedkirchen bekannt ist.

Als Beispiel will ich das bei der Tagung der EKD-Synode in Bremen lebhaft diskutierte Thema nennen, dass der Anteil von jungen Synodalen bisher sehr gering ist. Die Debatte hat dazu geführt, dass versprochen wurde, man werde dies bei den Wahlen in den Landeskirchen im Blick haben. Nun muss man abwarten, wie viele Landeskirchen wie viele junge Synodale in die Synode der EKD schicken. Es wäre schon ein ansehnlicher Erfolg, wenn der Synode am Ende wenigstens eine knappe Handvoll junger Erwachsener angehören würde, die zum Zeitpunkt der Wahl oder Berufung noch nicht älter als 30 Jahre alt sind. Dazu kommen ja ohnehin noch wie bisher die Jugenddelegierten, die freilich nicht stimmberechtigt sind.

epd: Zeichnen sich bei der Zusammensetzung der Synode erhebliche Veränderungen ab?

Barth: Aus den bisherigen Rückmeldungen kann man sagen: Es kehren viele vertraute Gesichter von Synodalen, die mehrere Perioden dabei gewesen sind, nicht wieder. Der Anteil der neuen Synodalen ist vergleichsweise hoch.

epd: Wie viele Mitglieder des Kirchenparlaments beruft die EKD?

Barth: Berufen werden 20, von den Landessynoden gewählt und entsandt werden 106 Synodale. Im Verbindungsmodell erfolgt der größte Teil der Berufungen aber nicht mehr allein durch den Rat der EKD. Bei zehn Berufungen wirken EKD und UEK zusammen, diese zehn Berufenen sind gleichzeitig Mitglied der Synode der EKD und der UEK-Vollkonferenz. Acht Berufungen werden zwischen der VELKD und der EKD abgestimmt, diese acht Synodalen gehören der Generalsynode der VELKD und zugleich der Synode der EKD an. Für zwei von den 20 Berufungen ist der Rat der EKD allein zuständig.

epd: Aber da kriegen Sie doch vielleicht Probleme, wenn jemand gar kein Interesse hat, zwei Gremien anzugehören?

Barth: Das ist eine interessante Frage, doch sie stellt sich nicht. Jeder gewählte und jeder berufene Synodale weiß: Die Wahrnehmung eines doppelten Mandats ist das Herzstück des Verbindungsmodells auf der Ebene der Synoden und der Vollkonferenz der UEK. Die Synodalen gehören zugleich der Vollkonferenz der UEK und der EKD-Synode oder der Generalsynode der VELKD und der Synode der EKD an. Das wird maßgeblich dazu beitragen, dass von den gemeinsamen Aufgaben her gedacht und im Sinne des evangelischen Gesamtinteresses gehandelt wird. Darum haben ja auch die Verträge zwischen der UEK und der EKD einerseits und zwischen der VELKD und der EKD andererseits die innere Logik des Verbindungsmodells so bestimmt: Das Zusammenwirken folgt dem Grundsatz, soviel Gemeinsamkeit aller Gliedkirchen zu erreichen wie möglich und dabei soviel Differenzierung vorzusehen, wie aus dem Selbstverständnis der Beteiligten nötig ist.

epd: Vor 20 Jahren gab es eine Frauensynode der EKD. Ist das Genderthema für die Kirche geklärt?

Barth: Es waren zwar insbesondere Frauen, die die Tagung in Bad Krozingen substantiell vorbereitet und zu bahnbrechenden Ergebnissen geführt haben. Gleichwohl war es keine "Frauensynode". Es ging und geht weiterhin um die "Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche". In dieser Beziehung wäre es ein Ausdruck von Hochmut, selbstzufrieden festzustellen, das Problem wäre geklärt. Der Leitsatz des Synodenbeschlusses von 1989 lautet im Blick auf die Zusammensetzung der Leitungs- und Beratungsgremien: "Es ist anzustreben, dass in die Leitungs- und Beratungsgremien evangelischer Kirche Frauen und Männer in gleicher Zahl gewählt oder berufen werden." So weit sind wir auch 2009 noch nicht, wiewohl ich zuversichtlich bin, dass wir in der 11. Synode der EKD - wie schon in der 10. - eine Quote von über 40 Prozent weiblichen Synodalen erreichen werden.

Das Genderthema reicht aber weit über Quotenfragen hinaus. Darum hat sich das Kirchenamt der EKD - um nur ein Beispiel zu nennen - 2006/2007 dem Zertifizierungsverfahren des 'audit berufundfamilie' unterzogen. Das Grundzertifikat ist gültig bis zum 26. November 2010. Aber schon jetzt ist deutlich: Die Vereinbarungen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf werden schon 2009 ausgeweitet, so dass beides gesteigert wird: die Arbeitszufriedenheit und die Arbeitseffizienz.

epd: Ein wichtiger Termin ist die Wahl des neuen EKD-Rates im Herbst. Welche Qualifikationen muss ein EKD-Ratsvorsitzender oder eine Ratsvorsitzende aufweisen?

Barth: Wenn ich mich auf diese Frage ausführlich einließe, würde ich den Missverständnissen und Fehldeutungen Tür und Tor öffnen. Man würde meine Antwort daraufhin abklopfen, was für ein Profil ich beschrieben habe, und zu identifizieren versuchen, auf wen das Profil passt. Man würde spekulieren, ob ich irgendwelche politischen Absichten verfolge und welche. Man würde ins Grübeln kommen, ob der Präsident des Kirchenamtes gut beraten ist, sich zu einem derart heiklen Thema öffentlich zu äußern. Kurz - diese Mühen sollten wir uns gegenseitig ersparen.

epd: Was wird denn das beherrschende Thema der nächsten sechs Jahre? Wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Barth: Es wird in den nächsten sechs Jahren nicht das eine, das beherrschende Thema geben. Viele Themen der jetzigen Ratsperiode werden wiederkehren. Der unter der Überschrift "Kirche der Freiheit" angestoßene Reformprozess muss engagiert und mit Phantasie weitergehen; im Bilde gesprochen: Das Feuer, das mit ihm entfacht wird, muss mit kräftiger Flamme brennen und darf nicht wie ein Strohfeuer auflodern, um nach kurzer Zeit zu verlöschen. Die Kompetenzzentren sind gegründet und geben dem Reformprozess einen enormen Schub. Evangelisch-katholische Ökumene ist in einem multikonfessionellen Land wie Deutschland immer ein Topthema, zumal im Vorfeld von 2017 und damit dem Reformationsjubiläum. Auch die Frage des Verhältnisses zum Islam wird virulent bleiben. Wir müssen überhaupt nachhaltig an den angepackten Aufgaben dranbleiben.

Hinzu kommen die aktuellen Fragestellungen und Herausforderungen, etwa auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik oder auf dem Feld der Bioethik. Ich hoffe sehr, dass wir in dieser Hinsicht die Lektion nicht vergessen, die wir gerade beim und vom derzeitigen Ratsvorsitzenden lernen können, nämlich uns zu hüten vor Selbstsäkularisierung. Es ist - - so hat er vor zehn Jahren geschrieben - "die erste Aufgabe der Kirche, das Glaubensthema wieder ins Zentrum zu rücken". Wenn das geschehe und die Kirche damit dem Heiligen Raum gebe, stelle sie auch die Welterfahrung in einen neuen Horizont. Und das - so Wolfgang Huber - bewirkt "eine Korrektur der Selbstsäkularisierung", in der das Glaubensthema "oft hinter moralischen Appellen verschwand".

epd: Welche neuen Aufgaben und Themen stehen konkret an?

Barth: Der Rat hat vor ein paar Wochen den Auftrag gegeben, die Denkschrift zu Fragen der evangelischen Sexualethik aus dem Jahr 1971 mit Hilfe von Fachleuten kritisch durchzusehen: Was davon ist im Grundsatz brauchbar und muss lediglich sprachlich überarbeitet werden? Was ist in der Sache strittig geworden? Was hat seine vorrangige Schwäche darin, dass der Text von 1971 sich den Menschen von heute nicht mehr verständlich machen kann und ihre Herzen und Seelen nicht mehr erreicht? Der derzeitige Rat kann hierzu nur Vorarbeiten machen; dazu gehört gegebenenfalls eine Empfehlung an den künftigen Rat, eine Arbeitsgruppe einzusetzen, die einen Text vorbereitet zu den Fragen des verantwortlichen Umgangs mit Sexualität. Dies wäre ein gewichtiges Vorhaben, das angesichts der im Raum der evangelischen Kirche bestehenden Kontroversen und angesichts des Mangels an sprachlich überzeugenden Vorbildern allerdings voller Schwierigkeiten und Fallstricke ist. Wir sind erst auf der Suche nach einer Sprache, mit der wir unverkrampft, respektvoll und sensibel von Sexualität sprechen können.

Es gibt auch eine Grundsatzentscheidung, die Lutherbibel einer behutsamen Durchsicht zu unterziehen. Das zielt erstens auf Stellen, wo die Untersuchung der handschriftlichen Weitergabe des biblischen Textes, die sogenannte Textkritik, zu neuen Befunden geführt hat. Und zweitens betrifft es Bibelstellen, bei denen die Erforschung der Bedeutung von seltenen Wörtern oder die Gewinnung neuer Einsichten über den Kontext zu einer anderen Übersetzung nötigt. Auch wenn wir uns im Zuge dessen von einigen vertrauten Textfassungen sollten trennen müssen - die Texttreue zählt, und sie gibt den Ausschlag.

Derzeit geht es um die Zusammenstellung kleiner Teams aus Fachleuten. Daneben bedarf es einer Struktur, in der die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppen geprüft und diskutiert werden. Notwendig ist weiter ein Steuerungsgremium, das entscheidet. Die Rechte an der Lutherübersetzung liegen beim Rat. Gegen ihn gibt es keine Veränderung des Luthertextes. 2017 steht der 500. Jahrestag der Reformation an. Vor diesem Datum muss die Revision abgeschlossen sein.

epd: Lässt sich dieses Vorhaben wirklich unter dem Begriff Revision fassen?

Barth: Es gibt solche und solche Revisionen, behutsame und tiefgreifende. Im Blick auf das neue Vorhaben sprach ich mit Bedacht von einer behutsamen, exegetisch orientierten Durchsicht. Eine sprachliche Überarbeitung wird als Ziel bewusst ausgeschlossen. Man wird die Änderungen natürlich sprachlich einfügen in den Duktus, Klang und Ton der Lutherbibel. Nicht beabsichtigt ist aber, damit einen modernisierten Luthertext herzustellen. Luther ist Luther. Und der Markenname Luther verlangt, dass der Luthertext seine unverwechselbare Prägung behält - sonst ist es nicht mehr Luther.

epd: Unter dem Eindruck der Finanzkrise warnt der rheinische Präses vor einer Erosion der Fundamente der Gesellschaft. Nikolaus Schneider schlägt vor, das Sozialwort der Kirchen von 1997 fortzuschreiben. Sehen Sie dafür Chancen?

Barth: Der rheinische Präses wollte meines Erachtens nicht sagen, wir bräuchten nochmals einen Konsultationsprozess zur Erarbeitung eines Wortes zur wirtschaftlichen und sozialen Lage. Man kann im Leben bestimmte Dinge nicht einfach wiederholen, das ist langweilig und gelingt meist nicht. Sehr wohl aber haben wir Grund zu der Frage: Was ist jetzt, 2009, das rechte Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage?

Es liegt doch auf der Hand: Wir haben eine wirtschaftliche und soziale Lage, die labil ist und viele Unwägbarkeiten einschließt. Man sollte sich nicht als Kassandra aufspielen, sondern der Offenheit des Prozesses Rechnung tragen. Wir haben eine Reihe von sehr besorgniserregenden Problemen. Der Finanzmarkt ist kaum reguliert. Es gibt Bestrebungen einiger Staaten, ihn sehr viel stärker zu regulieren, damit die Spekulationsgeschäfte zumindest eingeschränkt, wenn nicht ganz abgebaut werden.

Die Bürgerinnen und Bürger sind - noch? - erstaunlich ruhig und gelassen. Es gibt keine Anzeichen von Panik. Aber tief im Inneren nagt ein Gefühl der Unruhe: Haben wir die wirtschaftlichen Prozesse noch im Griff, oder sind wir nur noch Getriebene und wissen nicht, wo uns das hintreibt? Wenn ich mir die Äußerungen von Wirtschaftsinstituten anschaue, frage ich mich manchmal: Wissen die das alles wirklich so genau, oder erwecken sie lediglich den Eindruck, als hätten sie den Durchblick und verstünden die Ursachen und Wirkungen? Wie verlässlich ist eigentlich die Basis dieser Prognosen und Gutachten? Oder ist es nicht im Gegenteil so, dass wir bei den staatlichen Maßnahmen, im Bankensektor und in den Unternehmen gar nicht so genau wissen, welches Rezept wirklich greift?

Eines der wichtigsten Themen für den Dialog zwischen Kirche, Politik und Wirtschaft könnte darum in die Frage gekleidet werden: Was heißt es, zu handeln in einer Situation großer Ungewissheit? Was bedeutet es, wenn jemand über ein Wirtschaftsstützungsprogramm von zehn oder 50 oder 500 Milliarden entscheiden muss? Wir haben überhaupt kein Verhältnis mehr zu den Zahlen und jonglieren mit riesigen Beträgen. Und nach meinem Eindruck ist das Wissen darüber, was man damit ausrichten kann, bescheiden. Mit einer Atemlosigkeit ohnegleichen tut man etwas, weil nicht zu handeln die noch schlechtere Alternative ist.

Bevor wir uns als Kirche zu den sehr fachlichen Fragen äußern, etwa was für ein Steuersatz opportun ist oder wie hoch die Sozialleistungsquote sein soll - besteht da nicht die größere, die dringlichere Aufgabe darin, als Seelsorger Gesprächspartner für Menschen zu sein, die unter der Bedingung der Unsicherheit handeln müssen? Der rheinische Präses hat die schlichte Botschaft ausgegeben: Wir können die Gewissheit haben, dass auch das Jahr 2009 ein Jahr des Herrn sein wird. Ist das nicht die Botschaft, die im Mittelpunkt stehen muss? Wir sind Kirche und nicht die besseren Wirtschaftssachverständigen. Wir haben im Kern eine geistliche Botschaft.

epd: Aber die Renditeschelte ist griffiger?

Barth: Wie bei allen ethischen Fragen so gibt es auch hier das Verlangen, konkret zu werden: sei es, dass der Wille dazu von innen, aus dem eigenen Gefühl kommt, sei es, dass der Druck, Genaueres zu sagen, von außen, vor allem von Journalisten aufgebaut wird. Zum christlichen Reden in der Öffentlichkeit gehören zwei Seiten: den Mut zu haben, etwas zu sagen, und sich die Freiheit zu nehmen, zu schweigen.

epd: Nun steht in der katholischen Kirche eine Sozialenzyklika bevor. Ist damit nicht ein gemeinsames Sozialwort der evangelischen und der katholischen Kirche in Deutschland hinfällig?

Barth: Die katholischen Bischöfe in Deutschland werden, wenn eine Sozialenzyklika bevorsteht, nicht zuvor ein eigenes Wort sagen. Sie werden die Enzyklika abwarten. Es macht die relative Stärke des Katholizismus aus, dass innerkirchlich eine Kultur der Loyalität gepflegt wird und insbesondere die Verlautbarungen des Papstes wie ein Magnetfeld wirken. Freilich - dieser Stärke korrespondiert eine Schwäche: Aus der Kultur der Loyalität kann sehr schnell die Forderung nach Unterwerfung werden, und in einem starken Magnetfeld ist kein Raum für Freiheit und Individualität.

28. Januar 2009

Quelle: Evangelischer Pressedienst (epd)