"Der Staat hat keine Deutungshoheit über Religion"

Der EKD-Ratsvorsitzende Bischof Huber im Welt-Interview über die Berliner Initiative Pro Reli und seine Kritik an der Deutschen Bank

22. Januar 2009


Das Gespräch führte Matthias Kamann

DIE WELT: Herr Bischof, was hätten Berliner Kinder davon, wenn konfessioneller Religionsunterricht gleichberechtigtes Wahlpflichtfach neben Ethik würde?

Bischof Wolfgang Huber: Die Schülerinnen und Schüler können sich mit der Sprache eines Glaubens intensiver beschäftigen, bekommen ein Verständnis für die Prägekraft des Christentums in unserer Kultur und sind herausgefordert, sich damit so auseinanderzusetzen, dass sie Stellung nehmen können. So wird der Unterricht zur religiösen und ethischen Orientierung besser, die Dialog- und Gesprächsfähigkeit wird wachsen.

Was kritisieren Sie an der bisherigen Berliner Regelung mit dem Pflichtfach Ethik?

Huber: Ich habe schon immer kritisiert, dass der Religionsunterricht nicht den Status eines ordentlichen Unterrichtsfaches hat. Nach 1945 verweigerte der damalige Magistrat diesen Status; die Kirchen gingen in dem Interesse darauf ein, ein eigenständiges Angebot an den Schulen zu machen. Solange Berlin religiös relativ homogen war, ging das auch. Je größer aber die Vielfalt in Berlin wurde, umso klarer zeigte sich, dass dies kein Zukunftsmodell ist. 2006 hat Berlin das Einheitsfach Ethik eingeführt und damit einen neuen Fehler gemacht, um den ersten zu kompensieren. Denn man wollte bei der Einführung des Ethikfachs nicht sehen, dass dieses keineswegs für alle eine umfassende Begründung der Ethik repräsentieren kann. Unter den besonderen Berliner Bedingungen bekam eine Ethik ohne Gott den Vorrang vor einer Ethik mit Gott. Das reibt sich mit der Religionsfreiheit und der Bedeutung der jüdisch-christlichen Tradition für unsere Kultur.

Lässt sich Ethik nicht als verbindendes Fach rechtfertigen?

Huber: Der Staat hat kein Recht, die religiösen Inhalte zu definieren. Deshalb kann Ethik kein staatliches Einheitsfach sein, das für sich beansprucht, die jüdisch-christliche Perspektive oder die muslimische zu vertreten. Die Klugheit der deutschen Regelung besteht in einer Unterscheidung: Auf der einen Seite steht der Bildungsauftrag der öffentlichen Schule, der die großen Perspektiven der Religionen mit einschließt. Auf der anderen Seite steht die Religionsfreiheit, die den Staat zur Selbstbeschränkung verpflichtet, also dazu, nicht für sich die Deutungshoheit über den religiösen Bereich zu beanspruchen, sondern diese den Religionsgemeinschaften zu überlassen. Indes sieht der Gesetzentwurf von Pro Reli vor, dass in der Fächergruppe aus Ethik und konfessionellem Religionsunterricht Kooperationsphasen bindend vorgeschrieben sind. Das ist die überzeugendere Form, die unterschiedlichen Perspektiven zusammenzuführen.

Wird es dem Ethikunterricht gerecht, wenn er auf einem Pro-Reli-Plakat mit einem Farbkasten illustriert wird, in dem es nur Rot gibt?

Huber: Das spielt darauf an, dass die Verweigerung der Wahl zwischen Religionsunterricht und Ethik von der rot-roten Koalition verabschiedet wurde. Wird das plakativ dargestellt, gehört eine gewisse Vereinfachung dazu.

Auch eine arg grobe?

Huber: Ich glaube, dass dieses Plakat viele nachdenklich gemacht und auf die richtige Spur gebracht hat. Aber ich würde den Inhalt des Plakats nicht gern in einzelnen Sätzen aufschreiben, weil dies den Fehlschluss auslösen könnte, dass es beim Ethikunterricht nur Rotes gibt, was natürlich nicht zutrifft.

Ein Volksentscheid könnte von Parteipolitik überlagert werden: "Verpasst Klaus Wowereit einen Dämpfer!" Gefährlich für die Kirchen?

Huber: Ich würde es eindeutig vorziehen, wenn das Abgeordnetenhaus das Volksbegehren jetzt schon aufgriffe und dessen Inhalt zum Gesetz machte, nachdem die Initiative so breite Unterstützung erfahren hat. Dann wäre der Volksentscheid nicht nötig, die parteipolitische Verknüpfung wäre aufgelöst. Aber wenn das Abgeordnetenhaus ein solches Gesetz jetzt nicht verabschiedet, muss ein Volksentscheid folgen. Ich hoffe, dass es dann gelingt, den Inhalt in den Vordergrund zu rücken und falsche parteipolitische Instrumentalisierungen zu verhindern. Aber die Koalitionsparteien sollten überlegen, ob es nicht klüger wäre, jetzt die Sache inhaltlich aufzugreifen.

Sie fordern in einem Brief an die Berliner die Wahlfreiheit zwischen Ethik und Religion "so, wie es unser Grundgesetz vorsieht". Das suggeriert, die bisherige Regelung sei vom Grundgesetz nicht gedeckt. Sie ist aber nicht verfassungswidrig.

Huber: Die Berliner Regelung ist nicht verfassungswidrig, weil sie unter eine Ausnahmebestimmung des Grundgesetzes fällt, die Bremer Klausel. Diese enthält einen Bestandsschutz für Regelungen, die am 1. Januar 1949 bereits in Kraft waren und den Religionsunterricht nicht als ordentliches Unterricht vorsahen. Wenn man die Berliner Regelung aber wegen der gewachsenen religiösen Vielfalt weiterentwickeln muss, sollte man dem Geist des Grundgesetzes folgen. Und der geht von der Religionsfreiheit aus, sodass Religionsunterricht ordentliches Unterrichtsfach ist, das nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt wird. Die Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern könnten dann zwischen verschiedenen Angeboten wählen. Daher wäre es dem Geist des Grundgesetzes gemäß, in Berlin die Wahlmöglichkeit einzuführen.

Der Schriftsteller Bernhard Schlink wirft den Kirchen vor, sie wollten bei Pro Reli "ihre politischen Muskeln spielen lassen".

Huber: Ich fand den Einwurf von Bernhard Schlink unangebracht und kränkend, zumal gegenüber der Initiative Pro Reli, der ja damit vorgeworfen wird, sie sei von den Kirchen gesteuert. Das ist nicht der Fall. Schlink ist auch der Erste, der das behauptet. Er hätte es besser wissen können. Im Übrigen geht es nicht um Muskelspiele, sondern um die Verlässlichkeit der Kirchen. Wir setzen uns seit 15 Jahren für die Wahlpflicht ein, was auch im Schlussprotokoll des Berliner Staat-Kirche-Vertrags nachzulesen ist. Wie könnten wir da einer Bürgerbewegung für ein Volksbegehren gleichen Inhalts die Unterstützung versagen? Wir wären völlig unglaubwürdig, wenn wir das täten.

Politisch interveniert haben Sie auch mit Äußerungen zur Finanzkrise und zu Renditezielen Josef Ackermanns. Nun haben Sie sich bei ihm entschuldigt. Wofür genau?

Huber: Es ging in der Öffentlichkeit ja immer um eine bestimmte Interviewäußerung, bei der ich nicht vorausgesehen habe, dass sie als isolierter Angriff auf Josef Ackermann missdeutet würde. Erst recht habe ich nicht vorausgesehen, dass behauptet würde, ich hätte das in meiner Weihnachtsbotschaft, gar Weihnachtspredigt erklärt. Das war eindeutig nicht der Fall. Aber es gibt Situationen, in denen auch die Fehler beim Transport einer Botschaft dem zugerechnet werden, der sie ausgesandt hat. Insofern hat jenes Interview eine Wirkung gehabt, die ich bedauere. Das habe ich schon vor einiger Zeit Josef Ackermann gegenüber ausgedrückt. Zu den inhaltlichen Fragen bei der Finanzkrise aber werde ich mich weiterhin öffentlich äußern. Ich nehme nichts davon zurück, dass überzogene Renditeerwartungen Finanzprodukte entstehen ließen, denen kein realer Gegenwert entsprach. Das führte zu einem Zusammenbruch, dessen Folgen für die Lebenssituation vieler Menschen uns lange bedrängen werden.

Quelle: Die Welt vom 22. Januar 2009