Angriff auf ein Zerrbild.

Zum Aufruf „Frieden mit dem Kapital?“ gegen die Unternehmerdenkschrift der EKD

30. Oktober 2008


Professor Heinrich Bedford-Strohm, Bamberg:

Rechtzeitig zur EKD-Synode erschien in Publik-Forum ein Aufruf engagierter Christinnen und Christen, die zum Kampf gegen die Unternehmerdenkschrift der EKD aufrufen und ihre Rücknahme fordern. Die Denkschrift, so der Tenor des Aufrufs und des ihn näher erläuternden Buches, sei Dokument einer neoliberalen Wende der EKD, die sich „der mächtigsten Klasse des herrschenden Systems“ anbiedere. Demgegenüber wird von den Autorinnen und Autoren in Anspruch genommen, Sachwalter der Bekenntnisprozesse in der Ökumene zu sein, die im diametralen Gegensatz zu der jetzt veröffentlichen Denkschrift stünden.

Der Aufruf verlangt eine Antwort. Als Mitglied der verantwortlichen EKD-Sozialkammer gebe ich sie nicht nur, weil ich mich mit einigen der Initiatoren seit langem verbunden fühle und mit ihnen zusammen den Bekenntnisprozessen in der Ökumene hierzulande mehr Beachtung wünsche, sondern auch, weil es in der Diskussion um diesen Aufruf um grundsätzliche Fragen des Politikverständnisses und der öffentlichen Positionierung einer der Option für die Armen verpflichteten Kirche geht, die in der Tat der Klärung bedürfen.

In der Wahrnehmung der gegenwärtigen Situation in Deutschland und weltweit und in ihrer ethischen Bewertung besteht mit den Initiatoren in vieler Hinsicht Konsens: die Auseinanderentwicklung zwischen arm und reich widerspricht zutiefst den ethischen Orientierungen für eine „wohlgeordnete Gesellschaft“, die sich aus dem christlichen Glauben ergeben. Dass es in einem so reichen Land wie Deutschland ein so hohes Maß an Armut gibt, ist ein Skandal, auf den die Kirchen, insbesondere die Würzburger EKD-Synode und in vielen Reden auch der EKD-Ratsvorsitzende, immer wieder mit Nachdruck hingewiesen haben. Auch dass es dabei nicht allein um die christliche Caritas geht, sondern um Gerechtigkeitsfragen, kann nicht außer Frage stehen. Deswegen sind zum Beispiel starke Gewerkschaften notwendig, die gerechte Teilhabe aller durchsetzen helfen. Die Liste der gemeinsamen Grundannahmen ließe sich fortsetzen.

Und dennoch entsteht in dem Aufruf der Eindruck, als mache sich die EKD mit der Unternehmerdenkschrift nun zur Speerspitze einer neoliberalen Wirtschaftsideologie. Dass vermutlich nicht wenige Mitglieder der EKD-Sozialkammer oder des Rates der EKD sich nicht hätten träumen lassen, jemals das Etikett „neoliberal“ aufgeklebt zu bekommen, ist zu verkraften. Viel wichtiger ist die sachliche Bewertung. Und hier kann nur festgestellt werden, dass der Aufruf durch aus dem Zusammenhang herausgerissene Zitate und das Verschweigen wichtiger anderer Aussagen ein Zerrbild der Denkschrift zeichnet, das fast sprachlos macht. Wenn die EKD sich so positioniert hätte, wie die Initiatoren des Aufrufs es darstellen, dann würde ich jedenfalls zu den ersten Kritikern gehören. Glücklicherweise hat sie sich nicht so positioniert.  Fünf Klarstellungen mögen dazu helfen, dieses Zerrbild zu überwinden. Diese Klarstellungen können vielleicht dazu helfen, zu einer fruchtbaren Diskussion zu kommen, wie die Initiatoren sie sich wünschen und wie sie auch tatsächlich fällig ist.

Erste Klarstellung: Die Unternehmerdenkschrift ist keine Denkschrift zur Wirtschaft als ganzer. Sie konzentriert sich auf den Aspekt einer Ethik unternehmerischen Handelns und muss eingeordnet werden in die anderen Denkschriften der EKD zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, die alle miteinander als eine Art „evangelische Soziallehre“  gesehen werden können. Dass sie in der Unternehmerdenkschrift nicht die ausführlichen Überlegungen zu diesen Fragen, etwa der Gestaltung und ökologischen Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft, ausführlich  wiederholt, die in den früheren Stellungnahmen vorgebracht worden sind, darf nicht als inhaltliche Distanzierung verstanden werden, sondern steht im Dienste einer Fokussierung. Die anderen einschlägigen Denkschriften werden alle zustimmend zitiert. Nicht ohne Grund hat der EKD-Ratsvorsitzende in seinem Vorwort genau diesen Punkt ausdrücklich betont und nochmals explizit auf die Armuts-Denkschrift „Gerechte Teilhabe“ als Bezugsrahmen hingewiesen. Der Text  der Denkschrift selbst beginnt mit einer  Anknüpfung an die Armutsdenkschrift (Ziffer 8).

Zweite Klarstellung: Die soziale Marktwirtschaft wird genau so verstanden wie der Aufruf selbst es auch voraussetzt: Mit dem Zitieren  von Alfred Müller-Armacks „Idee.., »soziale Gerechtigkeit … zum integrierenden Bestandteil unserer Wirtschaftsordnung« zu machen, nicht nur einer neben der Wirtschaftsordnung stehenden Sozialordnung, die dann faktisch den Funktionsbedingungen unbeeinflusster Marktprozesse nachgeordnet würde“ , dürfen die Initiatoren auf den vollen Konsens mit der in der Denkschrift ebenso wie den EKD-Dokumenten vertretenen Auffassung zählen. Das Soziale ist in der Tat kein Anhang der Marktwirtschaft, sondern muss in die Strukturen und Regeln der Marktwirtschaft eingebaut verstanden werden.

Dritte Klarstellung: Die Denkschrift macht glasklar: Die Ideologie eines „freien Marktes“ als Allheilmittel ist nicht nur wegen ihres gegenwärtig offenbar werdenden Scheiterns zurückzuweisen. Eine globale Wirtschaft braucht einen klaren Rahmen und Regeln, die verhindern, dass der Zweck wirtschaftlichen Handelns, allen Menschen, auch den Schwächsten, zu dienen, ins Gegenteil verkehrt wird. An absolut prominenter Stelle, als zusammenfassende These zum Kapitalmarktkapitel, heißt es: „Die Veränderungen auf den Kapitalmärkten tragen zur berechtigten Beunruhigung bei. Gut regulierte (Hervorhebung von mir) Kapitalmärkte können jedoch zu erheblichen Wohlfahrtsgewinnen durch Transparenz, Effizienz und eine bessere Risikoverteilung beitragen.“ Es ist richtig, dass  weltweiter Kapitalverkehr nicht von vornherein verdammt wird. Dafür gibt es auch gute Gründe. Aber der Denkschrift zu unterstellen, sie vertrete ein neoliberales Modell, das Regeln ablehne, ist absurd. Wer das Finanzmarktkapitel trotz der sehr fachwissenschaftlichen Prägung aufmerksam liest, der wird sehen, dass es die weltweite Finanzmarktkrise nicht gegeben hätte, wären die dort vertretenen Regulierungsvorstellungen schon Realität. Die verstärkte Eigenkapitalabsicherung und eine weltweit koordinierte Aufsicht der Banken, die dort gefordert werden, gelten jetzt allgemein als Lehre aus dem Zusammenbruch des Finanzmarkts. Auch die Tobin-Steuer wird nicht aus ideologischen Gründen abgelehnt, nur ihre Funktionalität und Durchsetzbarkeit wird eher skeptisch beurteilt, eine Einschätzung, die – jedenfalls im Hinblick auf die Durchsetzbarkeit - vielleicht schon nach den Präsidentschaftswahlen in den USA revidiert werden könnte.

Vierte Klarstellung: Die Bejahung unternehmerischen Handelns als wichtige Produktivkraft einer Wirtschaft hat nichts zu tun mit kritikloser Anpassung. Erst durch die Wahrnehmung von Unternehmerinnen und Unternehmern als ethischer Subjekte, die ihren Glauben auch in ihrem Beruf ernst nehmen wollen, kann eine kritische Diskussion um Verhaltensweisen und strukturelle Rahmenbedingungen unternehmerischen Handelns überhaupt erst entstehen. Die Diskussion von systemischen Zwängen unternehmerischen Handelns wird dadurch nicht verhindert, sondern im Gegenteil befördert.

Fünfte Klarstellung: Eine Denkschrift kann nur eine von verschiedenen möglichen Lebensäußerungen der Kirche sein. Anders als die prophetische Kritik von einzelnen vollmächtig redenden Persönlichkeiten versuchen die Denkschriften der EKD schon immer, so etwas wie einen „stellvertretenden Konsens“ zu finden. Deswegen sind auch naturgemäß unterschiedlich denkende Menschen an der Erarbeitung beteiligt, von denen jeder und jede einzelne den Text anders verfassen würde, als er am Ende da steht. Wer diese Form protestantischer Konsensfindung grundsätzlich bejaht – und dafür, das zu tun, spricht vieles -, wird auch das Ergebnis nicht mit der Redeform eines Amos oder eines Jesaja auf eine Ebene stellen können, so sehr – diese Klarstellung ist wichtig! – die inhaltlichen Orientierungen der prophetischen Tradition wie etwa die Option für die Armen auch in der Redeform der Denkschriften für die Inhalte verbindlich sind.

So muss auch die Unternehmer-Denkschrift jenseits der falschen Alternativen zwischen prophetischer Fundamentalkritik und kritikloser Anpassung verstanden werden. Sie versucht, im Einzelnen natürlich angreifbar, Hilfestellung in der ethischen Reflexion unternehmerischen Handelns zu geben, nicht weniger und nicht mehr. Auch wenn diese begrenzte Funktion tatsächlich die Systemkritik in den Hintergrund stellt, hält sie den Raum für solche Systemkritik offen. Die Einsicht, dass aus der Sicht christlichen Glaubens kein Wirtschaftssystem heilig gesprochen werden kann, auch nicht die soziale Marktwirtschaft, enthebt indessen nicht von der moralischen Pflicht, die im Sinne einer Option für die Armen relativ besten Lösungen zu finden.

Der Aufruf lebt – ähnlich wie einige der ökumenischen Dokumente - im Kern von der theologischen Zurückweisung einer neoliberalen Ideologie, die das Geld statt den Menschen ins Zentrum stellt. Und diese Zurückweisung kann ja auch tatsächlich nur unterstrichen werden! Aber welchen Orientierungswert für unsere aktuellen Debatten hat das? Das sozialdemokratische Modell einer genuinen Verbindung von Marktwirtschaft und sozialem Ausgleich wird vom Neoliberalismus-Vorwurf jedenfalls nicht getroffen. Im Gegenteil werden viele der Elemente zur Stärkung der sozialen Balance, die sich aus diesem Modell ergeben, etwa ein Staat, der durch ausreichende Steuereinnahmen in der Lage ist, seine sozialstaatlichen Verpflichtungen zu erfüllen, auch auf die Zustimmung der Initiatoren des Aufrufs treffen.

Das Gleiche gilt für die ökumenischen Bekenntnisprozesse. Bei den Diskussionen um die Globalisierung auf der Vollversammlung des Weltkirchenrats in Porto Alegre 2006 konnte man eine interessante Erfahrung machen. Wer unterhalb der großen Bekenntniserklärungen über die Schritte ins Gespräch kam, die in den reichen Ländern des Westens jetzt notwendig sind, konnte einen nahezu vollständigen Konsens zwischen einem kubanischen Befreiungstheologen und einem deutschen Theologen mit sozialdemokratischem Hintergrund feststellen. Dieses Phänomen führt zu Grundsatzfragen, denen sich die Initiatoren stellen müssen und die vielleicht den moralischen Überlegenheitsgestus etwas dämpfen: Was genau ist „das System“? „Der“ Kapitalismus? Ist es auch der „rheinische Kapitalismus“? Auf den trifft das Etikett der neoliberalen Ideologie schon nicht mehr zu. Ist mit „dem System“ auch eine soziale Marktwirtschaft gemeint, die unter den Entgrenzungen der Globalisierung unter Druck geraten ist, aber im Prinzip durch weltweit gültige Regeln ihren sozialen Charakter wieder stärken kann? Die Initiatoren wissen um die Schwierigkeit der Antwort auf diese Fragen: „Selbstverständlich können wir keinen Vorschlag unterbreiten, wie eine notwendige Alternative kurzfristig das herrschende System ablösen könnte; aber wir können und müssen Wege suchen, auf denen die gröbsten Fehlentwicklungen, Schieflagen und verheerenden sozialen und ökologischen Verwerfungen, die das System heute verursacht, eingedämmt werden, und gleichzeitig langfristige Lösungen entwickeln helfen.“  Jedes dieser Worte kann nur dick unterstrichen werden. Vielleicht mit dem Zusatz, dass auf die Expertise von sozial verantwortlichen Unternehmerinnen und Unternehmern bei dieser Suche nicht verzichtet werden sollte.

Diese Diskussion könnte auch für die sozialethische Urteilsbildung in der EKD fruchtbar werden. Die ökumenischen Dokumente zur Globalisierung, insbesondere das Accra-Dokument des Reformierten Weltbundes und das AGAPE-Dokument des Weltkirchenrats könnten intensiver diskutiert und deutlicher in ihren Konsequenzen bedacht werden, als das bisher der Fall ist. Die wichtige Rolle, die starke Gewerkschaften und Betriebsrätinnen und Betriebsräte in den wirtschaftlichen Verteilungskämpfen spielen, könnte stärker betont werden. Und die Anwaltschaft für die Armen, wie sie die Armutsdenkschrift der EKD unterstrichen hat, könnte endlich zum integralen Element der Arbeit in den Gemeinden vor Ort werden.

Die Orientierung an Dietrich Bonhoeffer, wie sie die Initiatoren des Aufrufs vorschlagen, könnte tatsächlich weiterführen. Ob sich aus Bonhoeffers Theologie aber ein fundamentalkritischer Ansatz  begründen lässt, ist zweifelhaft. Der Grund dafür liegt in seinem Verständnis von Wirklichkeit. Der Begriff des Wirklichkeitsgemäßen – so schreibt er – wäre gefährlich missverstanden, wenn er als servile Anpassung an das faktisch Bestehende und als Opportunismus verstanden würde. „Ebensowenig allerdings wie die Servilität gegenüber dem Faktischen“ - so Bonhoeffer dann weiter – „kann prinzipieller Widerspruch, die prinzipielle Auflehnung gegen das Faktische im Namen irgendeiner höheren idealen Wirklichkeit den echten Sinn der Wirklichkeitsgemäßheit erfüllen. Beide Extreme sind vom Wesen der Sache gleich weit entfernt. Anerkennung des Faktischen und Widerspruch gegen das Faktische sind im echten wirklichkeitsgemäßen Handeln unlösbar mit einander verbunden.“

Auch für die Arbeit der Kammern der EKD lässt sich von Bonhoeffer her Orientierung gewinnen. In seiner Ethik entwickelt er fast so etwas wie eine „Job Description“ für diese Arbeit: Im Hinblick auf Kapitalismus oder Sozialismus rät er der Kirche, „einerseits abgrenzend negativ in der Autorität des Wortes Gottes solche Wirtschaftsgesinnungen oder –formen als verwerflich“ zu erklären, „die den Glauben an Christus offensichtlich hindern“. Andererseits – so Bonhoeffer - wird die Kirche „positiv nicht in der Autorität des Wortes Gottes, sondern nur in der Autorität des verantwortlichen Rates christlicher Fachmänner ihren Beitrag zu einer Neuordnung geben können.“

Auf der Basis des Rates „christlicher Fachmänner“ und Fachfrauen, die Sachexpertise und christliche Lebensorientierung miteinander verbinden, lässt sich auch heute eine sowohl fundierte als auch engagierte Diskussion führen. Eine solche Diskussion lohnt den Einsatz von Energie mehr als das Sammeln von Unterschriften gegen eine Denkschrift, die man ganz offensichtlich gründlich missverstanden hat.

Quelle: Publik-Forum (Der Beitrag erscheint in Publik-Forum in leicht gekürzter Form)