Statement in der Pressekonferenz zur Veröffentlichung der Denkschrift des Rates der EKD „Das rechte Wort zur rechten Zeit“, Berlin

Wolfgang Huber

09. September 2008


Im Jahr 1962 stellte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) den Text „Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung“ der Öffentlichkeit vor. Er war das erste Beispiel für eine neue Äußerungsform der EKD, die freilich in der Zeit des Kirchenkampfs schon einen Vorläufer hatte, nämlich der „Denkschriften“. Nur drei Jahre später folgte ein Text, der von außerordentlicher politischer Wirkung war. Sein genauer Titel hieß: „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“. In die Geschichte ging dieser Text als „die Ostdenkschrift“ ein; als 2005 das vierzigjährige Jubiläum dieser Äußerung der EKD zu begehen war, bekannten sich auch Politiker zu ihr, die seinerzeit vor einer ausdrücklichen Unterstützung zurückscheuten. Die Ostdenkschrift war aus dem Geist der Versöhnung, der einfühlsamen Anteilnahme und des unbedingten Friedenswillens heraus geschrieben und bereitete den Boden für die Entspannungspolitik der siebziger Jahre.

Mit der dramatischen, durchaus strittigen Resonanz auf diese Denkschrift von 1965 stand zugleich die Frage im Raum, was „Denkschriften“ eigentlich seien. Dieser Frage widmete sich die sog. „Denkschriften-Denkschrift“ aus dem Jahr 1970. Dieser Text, der unter dem Titel: „Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen“ erschien, benannte zwei Kriterien, denen öffentliche Äußerungen der evangelischen Kirche zu gesellschaftlichen Fragen jederzeit zu entsprechen hätten, nämlich Schriftgemäßheit und Sachgemäßheit. Meint „Schriftgemäßheit“ das Bezogensein des christlichen Glaubens auf seine biblischen Wurzeln, so weist das Kriterium der „Sachgemäßheit“ darauf hin, warum die evangelische Kirche sich zu fachlichen Fragen mit Hilfe des Sachverstands von Expertinnen und Experten äußert. Das ist nicht nur vernünftig; es entspricht auch dem evangelischen Verständnis der Kirche, nach welchem die sogenannten „Laien“ ebenso ihre Expertise in die kirchliche Urteilsbildung einbringen wie die Geistlichen. Um von dieser Expertise Gebrauch zu machen, beruft der Rat der EKD „Kammern“, also ständige Beratungsgremien für bestimmte Fragenkreise. Ihnen treten ad hoc-Kommissionen zur Seite, die mit der Bearbeitung einzelner Themen beauftragt werden.

Die erste „Denkschriften-Denkschrift“ entstand zu einer Zeit, in der Presse und Rundfunk noch die Leitmedien der öffentlichen Kommunikation waren; erst zwei Fernsehprogramme und wenige Regionalsender bestimmten das TV-Programm. Aber nicht nur die Medienwirklichkeit hat sich seitdem verändert. Wir haben vielmehr in den vergangenen knapp vierzig Jahren tiefgreifende weltpolitische Wandlungen und gesellschaftliche Umbrüche erlebt. Auch die Äußerungen der EKD haben sich weiter entwickelt. Zu bestimmten Fragen gelangen gemeinsame ökumenische Äußerungen von großem Gewicht. „Gott ist ein Freund des Lebens“ oder das gemeinsame Wort zu wirtschaftlichen und sozialen Fragen oder auch die Äußerung zur politischen Kultur „Demokratie braucht Tugenden“ sind Beispiele dafür. In der Form von Denkschriften sind inzwischen Grundlinien einer evangelischen Soziallehre entwickelt worden: Die Grund-linien von Friedensethik und Bioethik, von Wirtschafts- und Sozialethik, ein kohärentes evangelisches Bildungsverständnis und eine evangelische Perspektive auf das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung wurden inzwischen entwickelt. Deshalb liegt es nahe, die Fragestellung des Jahres 1970 neu aufzugreifen und zu fragen, wie die EKD sich heute auftragsgemäß und sachgerecht äußern kann.

Sind Denkschriften auch heute noch ein zeitgemäßes Medium, eine gegenwartstaugliche Art und Weise, sich öffentlich zu äußern? Unter anderem mit dieser Frage befasst sich die 2004 vom Rat der EKD in Auftrag gegebene zweite „Denkschriften-Denkschrift“, die der Vorsitzende der Kammer für Öffentliche Verantwortung Prof. Dr. Wilfried Härle und ich Ihnen heute gemeinsam vorstellen. Der Titel dieser neuen Schrift „Das rechte Wort zur rechten Zeit“ hat seine Wurzel in der weisheitlichen Literatur des Volkes Israel. Er zeigt an, dass auch heute für die EKD das Kriterium der „Schriftgemäßheit“ unverändert in Geltung steht. Auch das andere Kriterium der „Sachgemäßheit“ gilt nach wie vor.

Aber neben diese zwei Kriterien sind weitere Gesichtspunkte getreten, die bei der Erarbeitung öffentlicher Äußerungen der evangelischen Kirche berücksichtigt werden müssen. Öffentliche Äußerungen der EKD müssen nämlich

- in der Lage sein, sich unter den Bedingungen der Pluralität und des gesellschaftlichen Pluralismus zu Wort zu melden und dabei den Pluralismus grundsätzlich bejahen, also „pluralismusfähig“ sein,


- sie müssen von der Bereitschaft geprägt sein, falls notwendig Partei zu ergreifen und somit eine anwaltschaftliche Aufgabe wahrzunehmen. Die Option für Arme und Schwache und ebenso das Eintreten für die Opfer von Krieg und Gewaltregimen sind hierbei leitend.

- Öffentliche Äußerungen der EKD müssen die medialen Bedingungen unserer Zeit respektieren und mit ihnen, beispielsweise dem Internet, kompetent umgehen.

- Öffentliche Äußerungen der EKD müssen im Rahmen von nachhaltig wirkenden Kommunikationsstrategien entworfen sein.

- Sie müssen schließlich eine Art von „offener Kohärenz“ zum Ziel haben, das heißt, an bisherige Äußerungen anschließen, aber zugleich einen Raum für kirchliche Lernprozesse bieten.

An diesen Grundsätzen, die für alle öffentlichen Äußerungen der EKD und daher auch für ihre Denkschriften gelten, wird in mehreren Hinsichten ein spezifisch evangelisches Profil erkennbar. Ich hebe dabei besonders die beiden Gesichtspunkte der Pluralismusfähigkeit und der offenen Kohärenz hervor. Beides ist für eine Kirche der Freiheit charakteristisch. Den gesellschaftlichen Pluralismus nicht nur auszuhalten, sondern ihn aus theologischen Gründen ausdrücklich zu bejahen, ist eine der evangelischen Kirche von ihren Ursprüngen her mitgegebene Forderung. Ebenso mit den Ursprungsimpulsen der evangelischen Kirche verbunden ist der Gedanke einer offene Kohärenz und damit der Lernfähigkeit der evangelischen Kirche. Evangelische Theologie bekennt sich zur Endlichkeit der menschlichen Vernunft. Es gibt deshalb, präzise gesagt, kein Thema der evangelischen Glaubenslehre wie der evangelischen Soziallehre, über das die Akten für alle Zeiten geschlossen wären und über das deshalb keine Diskussion mehr möglich wäre. Dementsprechend vertritt die evangelische Kirche ein geschichtliches und darüber hinaus kooperatives Verständnis des kirchlichen Lehramts. Neue, kreative Ideen und kühne Gedankenexperimente haben deshalb in der evangelischen Kirche ihren Raum und ihr Recht.

Die neue Denkschriften-Denkschrift spricht in solchen Zusammenhängen im Anschluss an Friedrich Schleiermacher von „Heterodoxie“. Dieser Begriff meint ein Mittleres zwischen der Orthodoxie, also der rechten, reinen Lehre, auf der einen Seite und der Häresie, also der Irrlehre, auf der anderen Seite. Er bezeichnet diejenige vom bisherigen Lehrkonsens abweichende Auffassung, die einen unerlässlichen Schritt auf dem Weg zu neuer und hoffentlich besserer Erkenntnis darstellt.

Eine weitere Eigenart öffentlicher Äußerungen der EKD besteht darin, dass sich diese in einer Vielzahl von Gattungen und Formen manifestieren, die weder in einem hierarchischen noch in einem irgendwie kirchenrechtlich verbindlich geregelten Verhältnis zueinander stehen. In der Pluralität dieser Äußerungsformen - zu denen Bekenntnisse oder bekenntnisähnliche Texte, (synodale) Kundgebungen, Impulspapiere, Orientierungs- und Argumentationshilfen, aber auch gemeinsame ökumenische Texte gehören -  gelten die Denkschriften allerdings als eine besonders wichtige Gattung. „Das rechte Wort zu rechten Zeit“ erläutert, warum dies auch weiterhin der Fall sein wird - und zwar aus Gründen, die mit den Herausforderungen unserer Zeit zu tun haben: „Die Gattung der Denkschriften entstand [...] in einer völlig anderen Kommunikationslandschaft. Mit den gleichen Qualitäten, mit denen die Denkschriften seinerzeit der Verfasstheit und Funktion der Medien entsprachen, sperren sie sich heute gegen die inzwischen üblichen Wege moderner medialer Vermarktung.“

Sperrigkeit und nicht etwa Geländegängigkeit wird als Kennzeichen dieser Texte hervorgehoben. Längere, nachdenkliche, mehrere Perspektiven einbeziehende Texte haben es in der medialen Welt des 21. Jahrhunderts nicht leicht. Doch sie sind notwendig, weil die Gegenstände, über die nachzudenken ist, komplex sind und nicht jede Frage eine einfache Antwort findet. So klingt „Das rechte Wort zur rechten Zeit“ aus in einem Lob evangelischer Denkschriften als einer nach wie vor sachgemäßen und zeitgemäßen Art und Weise, in der die EKD ihre öffentliche Verantwortung in der pluralistischen Gesellschaft der Gegenwart wahrnimmt. Zur angemessenen Wahrnehmung dieser Verantwortung gehört aber nicht nur, das richtige Wort zu finden, sondern auch, es zur richtigen Zeit zu sagen. Wo dies nicht möglich ist, kann es geboten sein, nichts zu sagen. Dann hat eben das Schweigen seine Zeit – wie es im biblischen Buch des Predigers heißt: „Schweigen hat seine Zeit, Reden hat seine Zeit“ (Prediger 3, 7b). Zu den Aufgaben der Kirche gehört es, die eine Zeit von der anderen zu unterscheiden.