„Sind Sie konservativ geworden?“

Bischof Wolfgang Huber im Interview mit dem Magazin „Cicero“ (Ausgabe 6/2008)

22. Mai 2008


Als er Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche wurde, legte Bischof Wolfgang Huber seine SPD -Parteimitgliedschaft nieder. Im Gespräch mit Cicero blickt er auf die Rolle seiner Kirche in der 68er-Bewegung und formuliert ehrgeizige Ziele

Seit wir alle Papst sind, schärfen auch Sie das Profil Ihrer Kirche. Was bedeutet es heute, evangelischer Christ zu sein?

In einer religiös pluralen Gesellschaft ist es wichtig, deutlich zu machen, wofür die evangelische Kirche steht und worin die besonderen Stärken des Protestantismus in Deutschland liegen. Es gibt Schüler, beispielsweise in Berliner Hauptschulen, die zuerst mit dem Islam in Berührung kommen, wenn sie sich für Religion zu interessieren beginnen, und nicht mit dem Christentum. Da sind wir gefragt. Wir müssen uns um Deutlichkeit bemühen, damit die Menschen sehen können: Der christliche Glaube trägt. Dies ist mir übrigens schon seit langem wichtig – nicht erst, seit ein Deutscher Papst ist.

Von den evangelischen Christen besuchen keine fünf Prozent mehr regelmäßig den Gottesdienst.

Wir haben ein anspruchsvolles Ziel formuliert: Wir wollen, dass sich innerhalb absehbarer Zeit den Kirchenbesuch verdoppelt – zehn Prozent der evangelischen Gemeindemitglieder, die auch wirklich in die Kirche kommen, das muss doch möglich sein. Wir sehen jetzt schon eine Steigerung, vor allem bei anlassbezogenen Gottesdiensten zur Taufe, zu Schulbeginn, zum Ende der Schulzeit oder zu anderen Anlässen. In der Urlaubszeit gehen immer mehr Menschen zum Gottesdienst; auch an den Festtagen nimmt der Gottesdienstbesuch deutlich zu. Auch Suchende und Zweifelnde sind in unseren Gottesdiensten willkommen.

Wie wollen Sie konkret die Menschen wieder für die Kirche und den Glauben begeistern?

Dazu haben wir in der evangelischen Kirche einen Reformprozess in Gang gebracht. Wir wollen zum Beispiel die Qualität der Gottesdienste steigern. Im Protestantismus steht traditionell die Predigt, das Wort im Mittelpunkt des Gottesdienstes. Aber wir sehen auch zunehmend den Wunsch nach einer Liturgie, die alle Sinne anspricht. Deswegen wollen wir Kompetenzzentren für Predigtkultur und Gottesdienstqualität einrichten. Pfarrerinnen und Pfarrer ebenso wie Kirchenmusiker und andere an der Gestaltung des Gottesdienstes Beteiligte sollen dort zur Pflege der Gottesdienstkultur angeregt werden. Alle Mitarbeitenden der Kirche sind aufgerufen, sich während ihres ganzen beruflichen Lebens fortzubilden. Ganz besonders wollen wir auch die ehrenamtliche Mitarbeit würdigen und durch Fortbildungsangebote unterstützen.

Können Sie als Bischof Ihre Gottesdienste optimieren?

Tatsächlich ist mein Amt als Bischof der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz vor allem ein Predigtamt. Ich predige rund sechzig Mal im Jahr. Und natürlich habe ich jedes Mal das Ziel, mit meiner Predigt die Menschen zu erreichen. Gottesdienst- und Predigtkritik sind mir auch persönlich sehr wichtig.

Ist die Glaubensverkündigung angesichts der viel beschworenen Rückkehr des Religiösen einfacher geworden?

Den Begriff „Rückkehr des Religiösen“ verwende ich nicht so pauschal wie andere. Er klingt so, als gäbe es da einen Automatismus, und die Menschen würden einfach alle wieder gläubig. Ja, im öffentlichen Diskurs interessiert man sich wieder mehr für religiöse Fragestellungen. Aber die Kirchen werden dadurch nicht automatisch voller. Und was heißt eigentlich „Rückkehr“? Religion war nie verschwunden. Man hat sie allerdings weithin zur Privatsache erklärt und häufig verschwiegen. Das hat sich geändert; dadurch gibt es neue Anknüpfungspunkte für die Verkündigung.

Sie tragen heute, wie so oft, geistliches Kleid. Ihre Kritiker sagen, dass Sie das, was Sie früher mit liberalen Ideen eingerissen hätten, nun mit einem neuen Konservatismus wieder aufbauen wollen. Stimmt das?

Diese Schablonen helfen nicht weiter. Heute habe ich ein anderes Amt als früher als Kirchentagspräsident oder als Professor für Sozialethik in Heidelberg. Damals habe ich mich für die Außenseite der Kirche, für ihre gesellschaftliche Verantwortung engagiert. Das tue ich heute auch. In meinem heutigen Amt liegt aber zugleich noch ein anderer Akzent, hier geht es um Führung und Leitung der Kirche. Ich bin heute derselbe Wolfgang Huber wie vor zwanzig Jahren, die andere Kleidung hat mich nicht zu einem anderen Menschen gemacht. Aber dazugelernt habe ich – hoffentlich!

Heute lassen Sie Ihre SPD-Mitgliedschaft ruhen. Hatten Sie Sorge, Gläubige abzuschrecken?

Ich habe sofort nach meiner Wahl zum Bischof meine Mitgliedschaft ruhen lassen. Ich wollte damit klarmachen, dass ich Bischof für alle bin, und nicht nur für die Wähler einer bestimmten Partei.

Würden Sie heute wieder in die SPD eintreten oder haben Sie Ihre Entscheidung bereut?

Bereut habe ich diese Entscheidung nicht, ich muss aber auch sagen: Ich hätte bei meinem Eintritt in die SPD nie gedacht, dass ich einmal so viel Ärger mit dieser Partei haben würde! Vor allem bei den Themen Religionsunterricht und Sonntagsschutz sind wir in Berlin in den vergangenen Jahren heftig aneinandergeraten. Aber damals war der Eintritt in die Partei stimmig; deshalb würde ich das auch wieder machen, wenn ich noch einmal in derselben Situation wäre.

Welche Rolle spielte Ihrer Meinung nach die evangelische Kirche in der 68er-Bewegung?

Die Kirche hat dabei eine erhebliche Rolle gespielt, ganz klar. Nicht nur an den positiven, sondern auch an den schwierigen Auswirkungen von 1968 war sie beteiligt. Mit allem Ungestüm wurde in der 68er-Bewegung ein Traditionsabbruch erkämpft, der im Rückblick als übertrieben erkannt werden muss. An den Folgen hat die Kirche heute noch zu tragen.

Sie wollen die evangelische Kirche fit machen für die demografischen Veränderungen im Land, stoßen damit aber nicht auf ungeteilte Gegenliebe. Wie bringen Sie einzelnen Landeskirchen bei, dass sie bald Geschichte sein werden?

Es geht nicht darum, dass die EKD den Landeskirchen etwas beizubringen oder gar vorzuschreiben hätte. Es gibt zahlreiche Projekte, die von den Landeskirchen selbst ausgehen und in denen Landeskirchen zusammenarbeiten. Wichtig ist, dass wir uns auf die Glaubensverkündigung konzentrieren können und die organisatorischen und administrativen Voraussetzungen dafür möglichst effizient gestalten.

Die Ökumene in Deutschland hat jüngst gelitten durch Ihre Positionierung in der Frage um die Forschung an embryonalen Stammzellen. Warum können Sie in dieser wichtigen Frage keinen gemeinsamen Nenner mit den katholischen Geschwistern finden?

Tatsächlich ist der Ausgangspunkt ein gemeinsamer: Der menschliche Embryo darf nicht zu Forschungszwecken hergestellt und „verbraucht“ werden. Ich hätte mir gewünscht, dass dieser gemeinsame Grundton stärker wahrgenommen worden wäre und sich die Berichterstattung nicht nur auf die Differenzen konzentriert hätte. Die Position der katholischen Bischöfe war bei der Abstimmung im Bundestag nur in dem Antrag des Abgeordneten Hüppe repräsentiert; aber es gibt verantwortungsbewusste Christen, die mit guten und ernsthaften Gründen eine andere Position vertreten. Sie halten es für richtig, dass für eine gewisse Zeit die Grundlagenforschung mit embryonalen Stammzellen ermöglicht wird, um die Voraussetzungen für die Nutzung von adulten Stammzellen zu klären. Dem wird Rechnung getragen, wenn Stammzelllinien von Embryonen, die nach einer künstlichen Befruchtung  „überzählig“ waren und vor dem festgelegten Stichtag entstanden sind, für die Forschung eingesetzt werden können – ganz klar mit dem Ziel, dass durch diese Forschung eines Tages die Verwendung von embryonalen Stammzellen gar nicht mehr notwendig sein wird.

Einige Ihrer Amtsbrüder haben sich Ihrer Lesart nicht angeschlossen, sondern der katholischen Position beigepflichtet. Belastet Sie das?

Es gibt auch katholische Theologen, Politiker und Forscher, die eine andere Haltung vertreten als die katholischen Bischöfe. Es ist also nicht so, dass einer einheitlichen katholischen Sicht vermeintlich zersplitterte evangelische Positionen gegenüberstehen. Dass es sich um ein sehr wichtiges ethisches Thema handelt, bedeutet nicht, dass alle Christen in dieser Frage zu demselben Ergebnis kommen müssen. Aber das Nein zu verbrauchender Embryonenforschung muss uns gemeinsam sein. Dabei bleibt es auch.

Sind Sie optimistisch, dass wir unter Papst Benedikt doch noch eine Annäherung in der Frage des gemeinsamen Abendmahls zwischen evangelischen und katholischen Christen erleben werden?

Protestanten haben – unter anderem während des Kirchenkampfs der Nazizeit – gelernt, dass wir uns nicht auch noch am Tisch des Herrn auseinanderdividieren lassen dürfen. Deshalb laden wir alle getauften Christen zum Abendmahl ein. Aus ihren eigenen Voraussetzungen heraus ist die Haltung der katholischen Kirche nachvollziehbar; sie betrachtet die Anerkennung des katholischen Amtsverständnisses für eine gemeinsame Feier der Eucharistie als konstitutiv. Dennoch hoffe ich, dass sich hier eine Veränderung einstellt. Im vergangenen Jahr haben wir die wechselseitige Anerkennung der Taufe feierlich bekräftigt und dabei gesagt: Die Taufe ist gültig, unabhängig vom Amtsverständnis der Kirche, in der sie vollzogen wird. Hoffentlich gelingt uns dies eines Tages auch beim Abendmahl.

Der Papst hat in Amerika versucht, die Wogen zu glätten, die der Missbrauchsskandal, verursacht durch katholische Geistliche, ausgelöst hat. Kennen Sie solche Fälle von Missbrauch auch aus der evangelischen Kirche oder ist das ein reines Problem der römischen Kirche?

Vereinzelte Missbrauchsfälle gibt es auch in der evangelischen Kirche. Allerdings bei weitem nicht in einem Ausmaß wie in der katholischen Kirche in den USA. Wir haben einen Maßnahmenkatalog, wie in solchen Einzelfällen vorzugehen ist.

Ist Kindesmissbrauch ein katholisches Phänomen, das auch durch den Pflicht-Zölibat verursacht wird?

Evangelische Christen gehen davon aus, dass der gesunde Umgang mit Sexualität zu einer entwickelten Persönlichkeit dazugehört. Das Familienleben mit Ehepartner und Kindern ist ein wesentlicher Bestandteil des Lebens von evangelischen Geistlichen. Und ich glaube, dass dies für ihren Dienst gut ist.

Der Vatikan hat angekündigt, dass der Papst 2017 zur Wartburg reisen wird, um so das Jubiläum 500 Jahre Reformation zu würdigen. Was halten Sie davon?

Wenn der Papst dorthin kommt, wo Martin Luther das Neue Testament ins Deutsche übersetzt hat, freut mich das sehr. Wenn es gelingt, dass Katholiken und Protestanten bis zum Jahr 2017 eine gemeinsame Sprache für das Verständnis der Ursachen und Folgen der Reformation finden, dann können wir die 500-Jahr-Feier in einem wahrhaft ökumenischen Geist begehen. Wir werden allerdings darauf hinzuweisen haben, dass die Geschichte der evangelischen Christenheit nicht erst 1517 begann – wir blicken ja gemeinsam auf eine zweitausendjährige Tradition zurück.

Sie haben sich stark gegenüber den Muslimen positioniert, die in Deutschland leben. Fürchten Sie eine Islamisierung des Landes Luthers?

Natürlich wünsche ich mir keine Islamisierung unseres Landes. Ich missbillige es mit Nachdruck, wenn beispielsweise der türkische Ministerpräsident Erdogan immer wieder abfällig sagt, Europa sei doch kein Christen-Club. Das drückt eine Geringschätzung für unsere christlich-abendländische Kultur aus, die die EU-Fähigkeit seines Landes sehr infrage stellt.

Welche Forderungen haben Sie an die islamischen Gemeinden in Deutschland?

Jeder, der hier lebt, hat die gleichen Rechte und Pflichten, auch die Muslime. Dafür setzen wir uns als evangelische Kirche ein. Jeder, der hier lebt, muss unsere Rechtsordnung bejahen und befolgen; und er muss der kulturellen und religiösen Prägung dieses Landes Respekt entgegenbringen.

Sie haben sich besonders für irakische Christen eingesetzt, die in ihrer Heimat wegen ihres Glaubens verfolgt werden. Was können wir hier tun, um die Verfolgung der Christen überall in der islamischen Welt zu stoppen?

Christen sind die weltweit am stärksten um ihres Glaubens willen verfolgte Religionsgemeinschaft. Dennoch geht es in dieser Frage nicht nur um Christen, sondern um die Freiheit zur Ausübung der Religion überhaupt. Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht. Dafür in vielfältigen Zusammenhängen und Ebenen einzutreten, ist vor allem eine Aufgabe der Politik, aber auch wirtschaftlicher und kultureller Entscheidungsträger. Im Fall der irakischen Christen geht es zugleich um humanitäre Hilfe in einem unmittelbaren Sinn; hier ist schnelles Handeln erforderlich.

Was ist der Kernunterschied zwischen islamischem und christlichem Glauben?

Vor kurzem haben 138 islamische Gelehrte zu einem Dialog auf der Grundlage des Doppelgebotes der Liebe zu Gott und zum Nächsten aufgerufen. Aber für uns Christen steht vor diesem Gebot die Gewissheit, dass Gottes Barmherzigkeit und seine Liebe uns in seinem Sohn Jesus Christus begegnen. Daraus erwächst die Fähigkeit, Gott und den Nächsten zu lieben. Deshalb steht nicht allein das Gebot an erster Stelle; ihm voraus gehen Gottes Gnade und seine Liebe zu den Menschen.

Ihre Amtszeit endet im kommenden Jahr – welche Ziele hat der Privatier Huber?

Der Rat der EKD hat gerade sein Arbeitsprogramm für die kommenden achtzehn Monate besprochen. Ich freue mich auf die Aufgaben, die in dieser Zeit in der EKD und in meiner Landeskirche vor mir stehen. Aber auch auf die Zeit danach gehe ich getrost und unverzagt zu. Für das eine wie für das andere gilt: „Meine Zeit steht in Gottes Händen.“

Bischof Huber, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch führten Christiane Goetz-Weimer und Alexander Görlach

Quelle: Cicero - Magazin für politische Kultur