Arme Alte

Wolfgang Huber - Kolumne in der BZ

02. Mai 2008


„Unser tägliches Brot gib uns heute“. Dass diese Bitte erfüllt wird, versteht sich nicht von selbst. Am Beispiel einer Rentnerin aus Spandau wurde es plötzlich wieder allen bewusst. Mit ihren 82 Jahren legt sie alle zwei Wochen einen Fasttag ein, weil das Geld sonst nicht reicht. So spart sie die Lebensmittel für nahezu einen Monat. Jetzt hat sie vor, jede Woche zu fasten. Sie rechnet vor: 52 Tage im Jahr sind fast zwei Monate.

Nur so kommt diese Frau mit ihrer kärglichen Rente über die Runden. Sie wohnt bescheiden und gönnt sich keinen Luxus. Kinder und Enkel hat sie nicht. Wenn sie die festen Kosten abzieht, bleiben ihr im Monat 180 Euro. Und die Preise für Heizung und Lebensmittel steigen. Da muss sie schauen, wo sie am billigsten einkauft. Und einmal in der Woche fasten.

Die Weitsicht und die Disziplin dieser Frau nötigen mir Respekt ab. Doch zugleich frage ich: Muss sich mitten im Wohlstand unserer Stadt eine Frau so verhalten wie in harten Kriegszeiten? In den Jahren des Krieges und auf der Flucht galt es, mit Wenigem auszukommen. Viele Alte können sich daran gut erinnern. Aber ist es richtig, dass sie heute wieder daran anknüpfen müssen?

Arme Alte hat es immer gegeben. Doch inzwischen wächst in unserer Stadt das Risiko, im Alter zu verarmen, dramatisch an. Nach Auskunft der Senatsverwaltung für Soziales müssen 30.000 Rentnerinnen und Rentner in Berlin von der Grundsicherung leben.

Im Durchschnitt erreichen wir heute ein höheres Alter als je zuvor. Die moderne Medizin, die bessere Ernährung und eine bessere Hygiene machen das möglich. Doch das darf nicht bedeuten, dass immer mehr Alte in Armut geraten. Es ist Zeit, sich an den ursprünglichen Sinn des vierten Gebots zu erinnern: „Du sollst Vater und Mutter ehren!“ Damit sind die alt gewordenen Eltern gemeint, die auf Ehre und Fürsorge besonders angewiesen sind.

Auch unsere Jüngsten dürfen wir nicht vergessen. Vor allem alleinerziehenden Müttern und ihren Kindern droht schon am Lebensbeginn das gleiche Schicksal wie armen Alten. Armut ist bei Kindern sogar noch weitaus häufiger als bei Alten. Niemand aber soll in unserer Stadt hungern müssen! Wir dürfen nicht zulassen, dass Alte und Junge gegeneinander ausgespielt werden.

In früheren Jahrhunderten sorgten die Generationen, die auf einem Hof zusammenlebten, füreinander. Heute bildet die ganze Gesellschaft einen solchen Hof. Nun sind wir alle gefragt, füreinander einzustehen. Wenn das geschieht, braucht niemand zu hungern. Niemand braucht zu leben wie im Krieg. Weder Junge noch Alte.