Statement in der Pressekonferenz „Woche für das Leben“ „Gesundheit – höchstes Gut“, Berlin

Bischof Wolfgang Huber

07. März 2008


Es ist mir eine besondere Freude, Sie auf die Thematik der Woche für das Leben 2008 mit einigen Überlegungen hinzuführen. Ich tue das besonders gern in einer Situation, in der dies zugleich der erste gemeinsame öffentliche Auftritt mit dem neuen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Herrn Erzbischof Dr. Zollitsch ist, dem ich auch an dieser Stelle meine herzlichen Segenswünsche ausspreche. Ich freue mich, sehr geehrter Herr Vorsitzender, lieber Bruder Zollitsch, auf das Zusammenwirken mit Ihnen, das sozusagen mit dieser Pressekonferenz beginnt. Ich weiß, dass Ihnen die ökumenische Zusammenarbeit am Herzen liegt; das ist bei mir ganz genauso. Die Woche für das Leben gehört zu den regelmäßigen Gelegenheiten, bei denen wir dieses ökumenische Zusammenwirken praktizieren und die Verbundenheit unserer Kirchen und unserer Gemeinden stärken können.

Für dieses Jahr wurde ein Thema gewählt, dessen Aktualität unverkennbar ist. Lassen Sie mich das mit einigen knappen Überlegungen verdeutlichen.
 
Vor einigen Jahren wurde vom Chef des Projekts über das menschliche Genom eine Revolution angekündigt: „Wenn wir wissen, was unsere Zellen wissen“, meinte er, „wird das unser Gesundheitssystem revolutionieren“. Auch ohne den gewissen Überschwang dieser Worte ist mit Nüchternheit festzustellen: Von der regenerativen Medizin versprechen sich viele  die Heilung chronischer Krankheiten wie auch die Regeneration alternder Organe. Das Leben in Gesundheit soll verlängert und die Lebensspanne soll so weit wie möglich ausgeschöpft werden. Für die meisten Menschen scheint es unstrittig zu sein, dass  Lebensqualität und körperliche Gesundheit identisch sind. Man kann sogar noch weitergehen: Die Sorge um die eigene Gesundheit ist heute ähnlich stark ausgeprägt wie in früheren Jahrhunderten die Sorge um das Seelenheil. Zugespitzt formuliert: Der früheren Hoffnung auf die Erlösung über den Tod hinaus entspricht heute die Hoffnung auf die Erhaltung der Gesundheit und die Heilung von Krankheiten. Deutliches Anzeichen dafür ist, dass die meisten Menschen bereit sind, „umzukehren“ und ihr Leben radikal zu verändern, wenn es um die eigene Gesundheit geht. Wo aber eine Heilung nach menschlichem Ermessen nicht mehr möglich ist, sehen sich Ärzte oft vor die erschreckende Erwartung gestellt, ihre Patienten von Krankheit und Leiden zu  „erlösen“ , wie es dann heißt.

Doch wie das gesamte System einer Krankheit zu verstehen ist, ist weit weniger eindeutig, als die meisten glauben. Welche Rolle spielen Herkommen, Lebensstil und Eigenverantwortung, welche die ökonomischen, die sozialen oder die politischen Bedingungen einer Krankheit? Und welchen Anteil haben die Gene tatsächlich? Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, daß ungefähr fünf Prozent der Weltbevölkerung unter einer körperlichen oder geistigen Behinderung leiden, an der genetische Ursachen beteiligt sind. Das ist eine verblüffend geringe Rate. Betrachtet man allerdings auch multifaktorielle Erkrankungen wie Krebs, Alzheimer oder Bluthochdruck, muss man annehmen, dass nahezu jeder Mensch irgendwann an einer Störung erkrankt, an der seine Erbanlagen in irgend einer Weise beteiligt sind. Die Fortschritte in der genetischen Diagnostik und der prädiktiven Medizin führen dazu, daß die lebensgeschichtliche Schicksalhaftigkeit von Krankheit transparent wird und eben auch durchbrochen werden kann. Mit diesem Wissen, das heute zur Verfügung steht, werden wir verantwortlich umgehen müssen. Es kann die Möglichkeiten  der Heilung verbessern, es kann Leben verlängern, es wird aber auch unser Verständnis von Eigenverantwortung und Solidarität verändern. Insofern steckt im verantwortlichen Umgang damit eine theologische, aber auch eine politische Herausforderung.

In Zukunft könnten nach einem genetischen Screening Arzneimittel bestmöglich auf  Patienten abgestimmt werden, es besteht aber auch die Gefahr, dass bestimmte Personengruppen von Versicherungen oder vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden. Schlimmer noch, dass Menschen mit bestimmten Krankheiten auf subtile Weise das Recht auf Leben bestritten wird. Schon jetzt erleben wir in unserer Gesellschaft, dass mit der Verbesserung der Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik Schwangere unter Rechtfertigungsdruck geraten, wenn sie ein behindertes Kind austragen wollen. Und weltweit, dass ganze Länder und Völker vom medizinischen Fortschritt abgekoppelt werden, weil sie für Pharmafirmen wirtschaftlich nicht attraktiv sind.
 
Trotz des Wachstums im medizinischen Wissen bleibt es eine große Herausforderung, die Güter der Gesundheitsvorsorge und –fürsorge gerecht zu verteilen. Trotz wachsender medizinischer, pharmazeutischer und technischer Hilfsmöglichkeiten lässt sich eine erschreckende Hilflosigkeit im Umgang mit kranken und behinderten Menschen und eine bedrückende Hoffnungslosigkeit im Angesicht des Sterbens feststellen; offenbar fällt es schwer, sich auf Menschen, deren Erkrankung nicht überwunden werden kann, einzulassen, ja mir der Erfahrung des Unabänderlichen umzugehen. Je eher man meint, das Schicksal in die Hand nehmen zu können – die vorgeburtliche Medizin ist dafür in den letzten Jahrzehnten zu einem Paradigma geworden –, desto schwerer fällt es anscheinend, offen und neugierig zu bleiben für das, was auf uns „zukommt“ – am Anfang wie am Ende des Lebens. Ich bin froh, dass Künstler wie Thomas Quasthoff, Autoren wie Tilman Jens in seinem mich tief bewegenden Aufsatz über seinen Vater Walter Jens oder Filmemacher wie das Team, das „Contergan“ gedreht hat, immer wieder helfen, diese Einengungen unserer Wahrnehmung zu überwinden.

Leiden zu mindern und vermeidbares Leid zu beseitigen, konstituiert ärztliches und pflegerisches Handeln. Dennoch gehören Leid und Vergänglichkeit zur Natur des Menschen und können nur um den Preis der Unmenschlichkeit abgeschüttelt werden. Das ist kein Argument gegen Forschung und medizinischen Fortschritt, wohl aber für ein umsichtiges ethisches Bedenken unserer Geschöpflichkeit. Erst die Spannung zwischen schöpferischer Kraft und Geschöpflichkeit, zwischen Selbstentfaltung und Teilnahme am Leben anderer gibt dem Leben Farbe und Tiefe. Schmerzhafte, depressive und traurige Phasen können uns eine erhöhte Wahrnehmungsbereitschaft und Einfühlungsfähigkeit schenken. Die Annahme unserer Angewiesenheit und Vergänglichkeit kann unsere Verbundenheit und Liebe stärken.

Besonders anrührend wird das in einem alten Epos erzählt, das dem Menschheitstraum von Unsterblichkeit und Selbstentfaltung etwas anderes entgegensetzt: Der Dichter Homer erzählt in der Ilias, dass Odysseus die Unsterblichkeit, die ihm von der Nymphe Kalypso angeboten wurde, ablehnte. Er zog es vor, an der Seite seiner Frau Penelope alt zu werden. Liebe und Solidarität sind stark wie der Tod. Sie helfen, Leiden standzuhalten und den Grenzen menschlichen Lebens ins Gesicht zu sehen. Solidarität und Gerechtigkeit sind darum für das Gesundheitssystem so wichtig wie der Wunsch der einzelnen nach Gesundheit und das Recht auf eine Heilbehandlung.
 
Beides wird – bei knappen Ressourcen – nur dann in einer guten Balance gehalten werden können, wenn wir Krankheit nicht als etwas Fremdes, als Abweichung von der Norm verstehen. Es ist normal, dass  Menschen krank werden. Was jemand als Krankheit oder Behinderung empfindet, steht dabei nicht von vornherein fest und lässt sich auch nicht aus den Genen ablesen – es folgt kulturellen Prägungen und sehr persönlichen Wertmaßstäben. Was erfülltes Leben ist, hängt letztlich von der Prägung durch grundlegende Werte ab. Wir sind deshalb davon überzeugt, dass die Klärung der eigenen religiösen Identität und eine persönliche Glaubenshaltung für den Umgang mit den Fragen von Gesundheit und Krankheit von großer, ja entscheidender Bedeutung ist.

Trotz aller Verheißungen der regenerativen Medizin, trotz aller Notwendigkeit einer guten Palliativmedizin – wir können uns selbst weder schaffen noch erlösen. Heute besteht die Gefahr, dass Gesundheit zum Produkt der eigenen Lebensgestaltung, der medizinischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten wird. Ärzte werden zu Vertragspartnern, bei denen man eine gelungene Operation, einen wiederhergestellten Körper einklagen möchte. Der Heilungsprozess wird nach Diagnosen berechnet und soll einem festgelegten Zeitschema folgen. Pflege wird zur Dienstleistung, die man in einzelne Funktionseinheiten zerlegen kann. Die Orientierung an einem Produkt- und Kundenbewusstsein führt schließlich zu einer Verrechtlichung, die am Ende auch das Recht auf einen guten Tod einzuschließen scheint. Visionen tauchen am Horizont auf, die uns in eine dunkle Zeit unserer Geschichte zurückverweisen: „guter Tod – Euthanasie“.

Um zu uns selbst zu finden und die menschlichen Grenzen zu bejahen, brauchen wir Menschen, die uns nicht wie Geschäftspartner gegenüber stehen, sondern die unsere Hoffnungen und unser Leiden teilen. Denen wir etwas wert sind, auch wenn wir nichts leisten, die Wunden verbinden und für Pflege sorgen wie der barmherzige Samariter. Wer die Leidenserfahrung eines anderen teilt, spürt die eigene  Begrenztheit  und die eigene Ohnmacht. Trotzdem haben viele Menschen die Erfahrung gemacht, dass solche Begegnungen eine spirituelle Dimension haben, die sie hellsichtig macht und ihre Leidenschaft für das Leben weckt. Aus solchen Begegnungen wächst das kirchliche Engagement für eine fürsorgliche Pflege und eine gute Qualität unserer Krankenhäuser. Diese Kraft der Fürsorge neu zu wecken, nicht nur bei denen, die dafür bezahlt werden, aber zugleich denen, die diese Fürsorge zum Beruf machen, mit Respekt und Anerkennung zu begegnen, das wäre die wirkliche Revolution, die unser Gesundheitssystem braucht. Das ist der Grund, warum die Kirchen sich in den nächsten drei Jahren mit dem Thema Gesundheit beschäftigen.