Für ein Europa mit gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen Hoffnung

Ein offener Brief kirchenleitender Persönlichkeiten Europas an die Politikerinnen und Politiker in Europa

14. Dezember 2006


Am Vorabend des 50-jährigen Jubiläums der Römischen Verträge sind wir, kirchenleitende Persönlichkeiten und andere Teilnehmende aus 50 Kirchen und 28 Ländern ganz Europas, am 12. und 13. Dezember 2006 auf Einladung der Kommission Kirche und Gesellschaft der Konferenz Europäischer Kirchen in Brüssel zusammengekommen.   Dieses Treffen fand an einem entscheidenden Zeitpunkt in der Debatte über die Zukunft Europas und des Europäischen Verfassungsvertrages statt.

Derzeit bereiten wir uns mit unseren Kirchen auf die Dritte Europäische Ökumenische Versammlung in Sibiu, Rumänien, im September 2007 vor. Dort werden Frauen und Männer aus fast allen Kirchen Europas darüber nachdenken, was Kirche-Sein in Europa heute bedeutet.

Nach unserer Überzeugung vertraut der Glaube durch Jesus Christus auf Gott als einer aktiv gestaltenden Kraft im täglichen Leben. Wir sind der Meinung, dass das spirituelle Erbe des Christentums eine starke Quelle der Inspiration und Bereicherung für Europa ist. Religion ist ein lebendiger, konstruktiver Teil des öffentlichen Lebens.

Wir möchten mit Ihnen, den verantwortlichen Politikerinnen und Politikern Europas, unsere Sorgen und unsere Hoffnungen für die Zukunft Europas und unserer Aufgabe darin teilen. Wir möchten insbesondere betonen, dass der Prozess der europäischen Integration auf der Grundlage gemeinsamer Werte und einer gemeinsamen Vision fortgesetzt werden muss.

Europa – ein Kontinent in Vielfalt geeint

Im Verlauf der europäischen Integration spiegelten sich die zugrunde liegende gemeinsame Vision und die Verpflichtung auf gemeinsame Werte in den Institutionen wider, die diesen Prozess vorangetrieben haben. Der Europarat und die OSZE fördern ein Europa, das auf der Sicherung der Menschenrechte, der Glaubensfreiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beruht. Versöhnung und Solidarität waren die Grundsteine der heutigen Europäischen Union.

Grundwerte müssen lebendig erhalten und als Richtlinie für Politikgestaltung in die Praxis  umgesetzt werden. Auch wenn heute die Mehrheit der Menschen in Europa nicht mehr mit Krieg und gewaltsamen Auseinandersetzungen konfrontiert ist und Freiheit und grundlegende Menschenrechte genießt, die negativen Auswirkungen des geteilten Europas sind doch nach wie vor spürbar und erfordern, wenn sie überwunden werden sollen, eine volle Umsetzung dieser Grundwerte. Die europäischen Institutionen und ihre Mitgliedstaaten sind für die Aufrechterhaltung dieser Werte mitverantwortlich.

Während manche Teile Europas sich auf eine engere Einheit zu bewegt haben, ist auch die Vielfalt für die Identität des Kontinents wesentlich. Die Vielfalt der Kulturen, Traditionen und religiösen Identitäten muss respektiert werden. Europa ist nicht gleichbedeutend mit der EU. Die EU steht in der Verantwortung, mit allen europäischen Ländern zusammenzuarbeiten und sicherzustellen, dass ihre Nachbarschaftspolitik zu gerechten, fairen und unterstützenden Beziehungen mit ihren Nachbarn führt.

Wir rufen alle europäischen Politikerinnen und Politiker dazu auf, sich neu auf eine gemeinsame europäische Vision, auf gemeinsame Werte und gemeinsame Strategien zu verpflichten.

2. Europa – ein Kontinent der gemeinsamen Werte

2.1 Frieden und Versöhnung

Die europäische Integration trägt noch heute viel zu Frieden und Versöhnung unter den Mitgliedstaaten der EU bei. Die Erweiterung der EU nach Ende des Kalten Krieges gibt Anlass zu der Hoffnung, dass Kriege und gewaltsame Konflikte in der Zukunft zwischen allen europäischen Ländern gleichermaßen undenkbar werden. Die EU spielt eine stetig wachsende Rolle bei der Prävention und Lösung von Konflikten. Wir rufen dazu auf, die jüngsten Erweiterungen der militärischen Kapazitäten auch durch eine Stärkung nicht-militärischer Initiativen - etwa durch die Einrichtung eines europäischen Friedensinstituts - zu ergänzen, die die gemeinsamen Bemühungen der europäischen Länder um Konfliktprävention, Vermittlung und gewaltlose Konfliktbewältigung prüfen, unterstützen und stärken.

2.2 Europäische Integration

Die europäische Integration lädt die Menschen dazu ein, Beziehungen zu entwickeln, die nicht auf die wirtschaftliche und politische Dimension reduziert werden können. Die Vertiefung und die Erweiterung dieser Gemeinschaft sind untrennbar verbunden und müssen Hand in Hand gehen. Wir begrüßen darum den Beitritt Rumäniens und Bulgariens zur EU im Januar 2007.

In den Ländern des westlichen Balkans und in der Türkei hat die Aussicht auf einen EU-Beitritt Hoffnungen geweckt und einen Reformprozess eingeleitet. Im Zusammenhang des fortschreitenden Beitritts- und Assoziierungsprozesses ist die Verpflichtung auf die vereinbarten Prinzipien, die Charta der Grundrechte und die Unterstützung der jeweiligen Bevölkerung wesentlich.

Da in Europa Menschen unterschiedlicher Kulturen und Traditionen aufeinander zugehen, möchten wir die große Bedeutung des interkulturellen und interreligiösen Dialogs betonen. Europa ist die Heimat vieler Nationen, Kulturen und Religionen. Wir laden andere Religionen zu einem Dialog über gemeinsame Anliegen ein. Europa ist zugleich ein Zufluchtsort für ImmigrantInnen, Flüchtlinge und Asylsuchende. Wir möchten die Bedeutung des Schutzes der Menschen vor Verfolgung, vor gewaltsamen Konflikten oder ungerechten wirtschaftlichen Strukturen hervorheben. Wir möchten einen Beitrag zum Jahr des interkulturellen Dialogs 2008 leisten. Solche sinnvolle einmalige Initiativen sind jedoch nicht ausreichend.  Wir rufen die politischen Verantwortlichen zur Unterstützung von Maßnahmen für einen langfristigen Dialog auf und sind bereit zur Zusammenarbeit mit ihnen.

2.3 Europa und Globalisierung

Der Reichtum Europas steht in scharfem Gegensatz zu den Lebensbedingungen der Menschen in vielen Teilen der Welt. Die EU und andere europäischen Staaten haben eine besondere Verantwortung, auf eine ausgewogene Weltwirtschaft mit gerechten Handelsbeziehungen und fairer Migrationspolitik und ohne wirtschaftliche Ausbeutung hinzuarbeiten. Derzeitige europäische Maßnahmen erwecken bei den Menschen in Entwicklungsländern allzu oft den Eindruck, in die entgegen gesetzte Richtung zu wirken.

Die Ungleichheit in der Verteilung des Reichtums in Europa muss angegangen werden. Europas Reichtum stehen auch die Arbeitslosigkeit in Europa und die wachsende Kluft zwischen Armen und Reichen gegenüber. Die Kirchen und ihre sozialen Programme sehen die Auswirkungen dieser Entwicklung an der Basis, denn oft sind sie die letzte Zuflucht derer, die durch das soziale Sicherungsnetz fallen.

Europas Reichtum führt auch zum unverantwortlichen Umgang mit Ressourcen. Als Reaktion auf den Klimawandel muss die EU ihre führende Rolle wahrnehmen und sicherstellen, dass alle Mitgliedstaaten ihre Verpflichtungen aus dem Kyoto-Protokoll erfüllen und sich eindringlich um Maßnahmen für die Zeit nach dem Kyoto-Protokoll bemühen. Es ist dringend notwendig, neue Initiativen zur Erschließung erneuerbarer Energiequellen voranzutreiben. Die Energiepolitik der EU muss sich mit den Umwelt- und Wirtschaftsaspekten an den Standorten der Energieproduktion befassen.

Soziale, wirtschaftliche und ökologische Fragen sind mit dem Prozess der Globalisierung eng verknüpft – einem Prozess, der Chancen und Herausforderungen mit sich bringt. Der Kontrast zwischen Armut und Reichtum wird durch ein materialistisches wirtschaftliches Wertesystem mit schädlichen Konsequenzen auf menschliche Beziehungen, Kulturen und menschliche Identität aufrecht erhalten.  Wir rufen die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker dazu auf, ein besseres Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen, sozialen und umweltpolitischen Maßnahmen zu finden. Sozial- und Umweltpolitik dürfen nicht zum Anhängsel der Wirtschaftspolitik werden, sondern müssen integraler Bestandteil der politischen Gesamtstrategie sein. Diese Frage sollte im Mittelpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und G8-Präsidentschaft 2007 stehen.

2.4 Europa für die Menschen

Die Menschen in Europa sehen sich von den komplexen Entscheidungsprozessen auf europäischer Ebene immer weiter entfremdet. Deshalb begrüßen die Kirchen Bemühungen, mit den Bürgern Europas in Dialog zu treten, wie z. B. durch den „Plan D“, der Demokratie, Dialog und Debatte fördern will. Uns bereiten allerdings die geringen praktischen Auswirkungen solcher Initiativen Sorge. Als Kirchen unterstützen wir gerne die Initiative „Europa für Bürgerinnen und Bürger“, hoffen aber auf zusätzliche Bemühungen um einen wirklichen Dialog mit allen Teilen der Gesellschaft. Damit würde der „offene, transparente und regelmäßige Dialog“ umgesetzt, den Artikel I-47 und I-52 des EU-Verfassungsvertrages vorsehen.

Die Kirchen in Europa haben sich sehr aktiv in den Entstehungsprozess des Verfassungsvertrages eingebracht und das Dokument kritisch gewürdigt. Kirchen fordern die Politikerinnen und Politiker jedoch dazu auf, auch die Stimmen der Menschen ernst zu nehmen, insbesondere jener, die meinten, dass den militärischen Projekten zu viel und der Förderung sozialer Maßnahmen zu wenig Raum gegeben wurde. Wir verpflichten uns und werden uns aktiv bemühen, den Dialog und die Beteiligung der Menschen auf lokaler Ebene in ganz Europa zu unterstützen, um die zukünftige Gestalt Europas zu entwickeln.

Die vergangenen und zukünftigen Erweiterungen der EU brauchen wirksamere und transparentere Entscheidungsprozesse. Wir rufen die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker dazu auf,  eine rechtsverbindliche Vereinbarung anzustreben und zu verabschieden, die auf der Vision eines gerechten, nachhaltigen und zur Teilnahme ermutigenden Europas gegründet ist.

3. Europa –Hoffnung und Verpflichtung

Europas Geschichte ist nicht allein durch Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen (an denen zum Teil auch Kirchen beteiligt waren) geprägt, sondern auch durch neue Auf- und Durchbrüche in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Eine stetige Erneuerung des christlichen Glaubens wird europäischen Gesellschaften in der Bewahrung ihrer Identität unterstützen und dazu beitragen Werte zu entwickeln die den Kern der europäischen Kultur bilden.

Wir sind entschlossen, Grundwerte gegenüber allen Eingriffen zu verteidigen und jedem Versuch zu widerstehen, Religion für politische Zwecke zu missbrauchen. Wir wollen unsere Anliegen und Visionen gegenüber den säkularen europäischen Institutionen einbringen und dies soweit wie möglich gemeinsam tun. In diesem Sinne verpflichten wir uns, unseren Beitrag zur Zukunft Europas und zu seiner Rolle als Kontinent der Hoffnung zu leisten. Unsere Hoffnung gründet auf Gott, wie es im Brief des Apostel Paulus an die Römer zum Ausdruck gebracht wird, der den Geist den Charta Oecumenica zusammenfasst.

„Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und mit allem Frieden im Glauben, damit ihr reich werdet an Hoffnung in der Kraft des Heiligen Geistes.“

Brüssel, 12./13. Dezember 2006