„Willkommen in der Wirklichkeit“

Interview des EKD-Ratsvorsitzenden mit dem Kölner Stadt-Anzeiger

10. November 2006


Der EKD-Ratsvorsitzende wünscht sich einen Dialog mit dem Philosophen.

KÖLNER STADT-ANZEIGER: Herr Bischof, der CDU-Mann Jürgen Rüttgers ehrt Jürgen Habermas, eine Art Ikone der 68er. Und dieser entdeckt als - wie er sagt - „religiös unmusikalischer“ Mensch die Bedeutung von Religion neu. Was passiert da?

WOLFGANG HUBER: In seiner Rede zur Verleihung des NRW-Staatspreises hat Jürgen Habermas seine neue Wertschätzung für die Religion besonders markant intoniert: Religiöse Zeitgenossen sollten nicht als Exemplare einer aussterbenden Spezies gesehen werden. Ich frage mich allerdings: Wer hat das denn vorher getan - und warum?

Die von Habermas mitgeprägte Generation zum Beispiel.

HUBER: Zum Teil stimmt das. Dass es hier in Bezug auf die Bedeutung der Religion tatsächlich zu einer Revision kommt, freut mich. Zumal wenn dies an so prominenter Stelle und von einem so prominenten Sprecher wie Habermas geschieht.

Also stehen wir schon an einem mentalen Wendepunkt?

HUBER: Es gibt eine neue Aufmerksamkeit für das Phänomen Religion. Aber es ist nicht so, dass die intellektuelle Diskussion darüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorauseilte. Vielmehr kommt jetzt bei den Intellektuellen an, was wir in den Kirchen erleben und was Meinungsforscher bereits seit fünf oder sieben Jahren beschreiben.

Der ultimative Sieg der Religion über die Linke und die Moderne?

HUBER: Das Links-rechts-Schema passt schon deshalb nicht, weil es über die Jahrzehnte immer auch Christen gab, die politisch „linke“ Positionen vertreten haben. Die Entstehung der Grünen in Deutschland etwa wäre ohne die starken Einflüsse aus dem Christentum gar nicht vorstellbar gewesen. Aber diesem religiösen Hintergrund politischer Bewegungen hat Habermas früher keine besondere Aufmerksamkeit zugewandt. Insofern beruht seine Rede von einer „säkularen Gesellschaft“ auch zu einem Gutteil auf einer Fiktion - als träten wir nach einer Phase, in der Religion gesellschaftlich keine Rolle mehr gespielt hätte, jetzt in eine „postsäkulare Phase“ ein, in der Religion unversehens wieder en vogue ist. Das ist ein sehr unscharfer Umgang mit dem Begriff der Säkularisierung.

Wie sehen Sie es?

HUBER: Auf den Staat und das Recht bezogen, sage ich: Gott sei Dank haben wir eine säkulare Ordnung, in der Menschen unterschiedlicher (religiöser) Überzeugung ein gleiches Heimatrecht haben. Wir haben Gott sei Dank einen Staat, der für seine Autorität keiner religiösen Legitimation bedarf, sondern sie von den Wählern bezieht. All das bejahen Christen genauso wie ihre Mitbürger ohne religiöse Verwurzelung. Und weil das so ist, kann ich auch nicht so wie Habermas zwischen „christlichen Bürgern“ und „säkularen Bürgern“ unterscheiden. Ich selbst verstehe mich als Christen und säkularen Bürger zugleich - in der gerade beschriebenen Loyalität zu unserer Verfassungsordnung.

Sie sprachen von der „Fiktion“ einer Gesellschaft ohne Religion. Das war ja nun explizit eine Utopie auch liberaler Strömungen.

HUBER: Dass bestimmte, eher vulgäre Spielarten des Marxismus die These vom „Absterben der Religion“ propagiert haben - geschenkt. Aber ich habe nie verstanden, wieso Liberale so etwas je für eine Vision oder - wie Sie sagen - Utopie haben halten können. Herausragende Vertreter des Liberalismus haben immer wieder auf die Wechselbeziehung von Freiheit und Glaube hingewiesen. Alexis de Tocqueville sagt: „Despotismus kommt ohne Glauben aus; die Freiheit nicht.“ Und deshalb ist es gut, dass die Religion als persönliche Überzeugung und gesellschaftlicher Faktor präsent ist und bleibt. Der Glaube schränkt den Vernunftgebrauch des Menschen nicht ein, sondern gibt ihm Orientierung.

Sie verbinden das mit einer selbstkritischen Sicht auf Unvernunft in der Kirchengeschichte.

HUBER: Unbedingt. Deswegen beziehe ich es auch nicht auf mich, wenn Habermas kritisch vermerkt, das Plädoyer für eine vernunftgemäße Religion dürfe keinen exklusiven Anspruch einer „an eine westliche Traditionslinie gebundenen Religion“ geltend machen. Selbstverständlich muss die Verbindung von Vernunft und Religion, die sich notwendig mit einer Ablehnung von Gewalt im Namen Gottes und der Religion verbindet, für alle Religionen gelten. Allerdings ist nicht zu bestreiten, dass gegenwärtig wichtige Teile der islamischen Welt damit außerordentliche Schwierigkeiten haben. Aber auch das Christentum hat das Verhältnis von Religion und Gewalt erst allmählich in dem von mir beschriebenen Sinn geklärt.

Dann heißt Ihre Forderung an den Islam: „Seid bitte mindestens so vernünftig wie wir Christen!“?

HUBER: Richtig - vorausgesetzt, dass alle Christen so vernünftig sind. Was die Wahrung unserer Verfassungs- und Rechtsnormen betrifft, sind alle Religionen aus Vernunftgründen daran gebunden.

Das hört Habermas bestimmt gern. Obwohl er sowohl den Papst als auch Sie milde tadelt, es mit dem „Vernunftstolz“ ein wenig zu übertreiben. Fühlen Sie sich ertappt?

HUBER: Insofern ja, als wir zuletzt vor allem über die notwendige Verbindung von Glauben und Vernunft debattiert haben. Dass der Glaube sich - wie die Bibel sagt - auf einen Frieden bezieht, „der höher ist als al le Vernunft“, mag da für einen Beobachter wie Habermas in den Hintergrund getreten sein. Als Christen haben wir - bei aller Wertschätzung der Vernunft - Grund, in Demut von der endlichen, also begrenzten Vernunft des Menschen zu sprechen.

Wann ehrt die EKD Jürgen Habermas mit einem eigenen Preis?

HUBER: Unter Intellektuellen sollte man zuallererst dem Dialog die Ehre geben. Ich würde mich über eine Gelegenheit dazu sehr freuen.

Quelle: Kölner Stadt-Anzeiger vom 10. November 2006