KIRCHE DER FREIHEIT - Intelligent schrumpfen

Interview des EKD-Ratsvorsitzenden mit der ZEIT

02. November 2006


Die evangelische Kirche hat die Probleme, die ganz Deutschland auch hat: demografischer Wandel, sinkende Mitgliederzahlen und ein Föderalismus, der die Gesamtbotschaft zersplittert. Nun versucht sich die Kirche mit einer großen Reform selbst zu verändern, ohne sich dabei zu verlieren – Intelligent schrumpfen, sichtbarer und verbindlicher werden, ohne den inneren Pluralismus aufzugeben, die Zerfaserung in 23 Landeskirchen zurücknehmen. Ungewöhnlich ist der Ton, mit dem die EKD ihre Agenda vorantreibt. In einer Broschüre mit dem Titel Kirche der Freiheit werden Begründungen gegeben, ein Lernprozess wird angestoßen, von dem nicht nur die evangelische Kirche etwas lernen kann, sondern – vielleicht – ganz Deutschland.

»Eine Kirche für das Volk«

Bischof Wolfgang Huber über offene Gemeinden, die Reform der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Frage, wie nah ein Kirchenmann der Pornografie kommen darf

DIE ZEIT: Man redet viel von einer Rückkehr der Religion, gleichzeitig gehen die Mitgliederzahlen auch in der evangelischen Kirche zurück. Woher dieser Widerspruch?

Wolfgang Huber: Die Rückkehr von Religion kommt keineswegs automatisch den Kirchen zugute. Eine diffuse Form der Frage nach Sinn, die Auseinandersetzung mit Beunruhigendem und Bedrohlichem am Islam, die Verarbeitung von Katastrophen – das alles stellt nicht von selbst schon eine verlässliche Verbindung zum christlichen Glauben her. Die Kirchen müssen einen eigenständigen Weg finden, sich damit auseinander setzen und dabei aufpassen, dass ihre Botschaft nicht von einer allgemeinen religiösen Welle verschlungen wird. Außerdem ändert wachsendes religiöses Interesse nichts daran, dass die Kirchen wegen des demografischen Wandels schrumpfen. Das Älterwerden der Gesellschaft ist in den kommenden Jahrzehnten die Hauptursache für den Mitgliederschwund. Dazu kommt ein Traditionsabbruch, bei dem sich ein vor allem in den Schulen vermittelter und gelehrter Materialismus im Osten und ein gelebter und praktizierter Materialismus im Westen verbunden haben. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns auf den Kern des Glaubens konzentrieren.

ZEIT: Konzentrieren heißt auch aussortieren. Was brauchen Sie denn nicht?

Huber: Der Gottesdienst ist wichtiger als eine Volkstanzgruppe, trotzdem würde man nicht verhindern, dass auch in einem Gemeindehaus eine Volkstanzgruppe stattfindet, wenn sie sich denn selbst organisiert und keiner meint, dass eine halbe Planstelle dafür unerlässlich sei. Wenn wir einfach weitermachen wie bisher, werden wir, schon wegen der sinkenden Kirchensteuereinnahmen, handlungsunfähig. Oder wir kürzen nach dem Rasenmäherprinzip. Richtiger finden wir, zu überlegen: Wo will man auch in einer Zeit des Rückgangs »investieren «, wo will man Schwerpunkte setzen? Unser Grundkonzept ist: Qualitätssteigerung in den Kernaufgaben, hohe Aufmerksamkeit für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und deren Qualität, große Achtung gegenüber ehrenamtlichem Engagement – und in den gesellschaftszugewandten Aktivitäten ein besonderer Akzent auf Bildung und Diakonie.

ZEIT: Qualitätssteigerung, Leistung: Kann die Kirche so über ihre Arbeit und ihre Leute reden?

Huber: Es kann eigentlich nicht überzeugen, wenn wir uns zwar daran erinnern, welche herausragende Rolle der Protestantismus bei der Ausbildung eines neuzeitlichen Leistungsethos gehabt hat, aber gleichzeitig sagen: Das gilt nur für die Protestanten in der Gesellschaft, in der Kirche selbst hat das keine Bedeutung. Trotzdem darf man den Blick dafür nicht verlieren, dass vieles, was im Tun von Seelsorgerinnen und Seelsorgern wichtig ist, ein für allemal verborgen, nicht messbar, nicht nachweisbar bleibt. Wir bekommen bei der Beschäftigung mit der erkennbaren »Qualität « nur ein Segment in den Blick, aber auch damit müssen wir uns beschäftigen.

ZEIT: In dem »Impulspapier« mit Ihren Reformvorschlägen fordern Sie: Mehr Freiheit wagen. Das kommt uns bekannt vor, nicht aus der Bibel, sondern von der Bundeskanzlerin.

Huber: Wir wollen in der Tat in der Freiheitsdiskussion einen Akzent setzen. Freiheit ist ein zentrales Thema des 21. Jahrhunderts, aber wir wollen einer Verengung des Freiheitsbegriffs entgegenwirken. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen, und Verantwortung ist nicht nur »Eigenverantwortung«.

ZEIT: Sie wollen in Ihrer Kirche Schwerpunkte setzen, mit Ausstrahlung über die Grenzen der Landeskirchen hinaus. Liegt in solchen »Leuchttürmen « nicht die Gefahr des Clubhaften, von Gemeinden mit lauter Gleichgesinnten?

Huber: Das stimmt. Doch diese Gefahr ist in den Ortsgemeinden mindestens so groß. Da kennen sich unter Umständen wirklich alle, man sitzt, wenn man sonntags kommt, immer an derselben Stelle. Da kann es einem, der als Unbekannter in diesen Gottesdienst kommt, durchaus passieren, dass er in letzter Minute beiseite geschoben wird, weil jemand seinen Stammplatz einnehmen will. Also: Eine offene Gemeinde zu sein, das ist immer die entscheidende Aufgabe, ob für eine Gemeinde mit speziellem Profil oder für eine nicht auf eine solche Weise profilierte Ortsgemeinde.

ZEIT: Wenn es der Kirche schwerer fällt, die Leute unmittelbar zu erreichen, muss sie stärker in die Medien gehen. Sie selbst melden sich regelmäßig in der Boulevardpresse zu Wort. Da kommt sofort der Verdacht der Profanisierung auf.

Huber: Ich bin gefragt worden, in einer Boulevardzeitung eine Kolumne mit der Überschrift Was würde Jesus dazu sagen? zu schreiben. Hätten Sie vor zehn Jahren vermutet, dass in einer Boulevardzeitung diese Frage überhaupt zum regelmäßigen Thema gemacht würde? Wenn ich unter dieser Überschrift aufgefordert werde, dann sind die Frage und hoffentlich auch meine Antworten so eindeutig, dass sie einen eigenständigen Ort und Stand in dem Umfeld haben, in dem sie erscheinen. Ich habe eben nicht nur die Aufgabe, den Leserinnen und Lesern der ZEIT zu vermitteln, was mir wichtig ist, sondern auch denen der BZ und der Bild-Zeitung.

ZEIT: Trotzdem könnte das Umfeld die Botschaft erschlagen. Boulevard ist eine im umfassenden Sinne pornografische Angelegenheit.

Huber: Entscheidend ist, dass man Pornografie auch Pornografie nennt, und zwar nicht nur öffentlich zur Straße hin, sondern auch gegenüber den Blattmachern selbst. Ich kann für mich in Anspruch nehmen, dass ich das auch tue.

ZEIT: Ist die stärker profilierte Kirche, die Sie wollen, noch eine Volkskirche, oder ist es eine Kirche der kreativen Eliten?

Huber: Unsere gegenwärtige Kirche ist nicht Volks kir che in dem Sinn, dass die Gesamtheit des Volkes einer der beiden Kirchen angehört. Kirche ist aber unweigerlich Volkskirche in dem einen Sinn, dass sie Kirche für das Volk ist, dass sie keinen Menschen außerhalb der christlichen Botschaft stehen lässt. Daraus folgt, dass der Minderheitsstatus niemals Selbstzweck sein kann. Große Theologen dachten, die Botschaft der Kirche werde automatisch an Klarheit gewinnen, wenn die Christen erst einmal in der Minderheit seien und sich als Avantgarde formieren würden. Es hat sich aber herausgestellt, dass eine Minderheitskirche genauso undeutlich …

ZEIT: … und verschlafen …

Huber: … auch verschlafen sein kann wie eine Kirche, die noch die Mehrheit hinter sich hat. In Deutschland haben wir Regionen, in denen 80 bis 85 Prozent der Bevölkerung eines Dorfes derselben Kirche angehören. Und wir haben radikale Minderheitssituationen bis hin zu Wohngebieten in Berlin, wo 4 Prozent der Wohnbevölkerung evangelisch sind. Wir haben also in Deutsch land die gesamte Spannbreite zwischen Mehrheits- und Minderheitssituationen.

ZEIT: Es geht bei der anspruchsvollen Kirche auch um die Frage: Wie bekommt man jemanden in einen Gottesdienst, der nicht eine Stunde zuhören kann, ohne umzuschalten? Auch die Kirche hat ein »Unterschichtenproblem«.

Huber: Eine generelle Antwort darauf weiß ich auch nicht. Manchmal findet man über die Arbeit mit den Kindern Zugang, die in kirchlich getragenen Kindergärten angemeldet werden. Es gibt Versuche, die Kindergärten zu Familienhäusern oder zu Mehrgenerationenhäusern zu entwickeln. Und durch nichts zu ersetzen ist die Bereitschaft von kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Menschen in solchen Situationen zu Hause aufzusuchen. Wir brauchen eine neue Initiative für kirchliche Besuchsdienste – dass dies stark zurückgegangen ist, dem müssen wir beherzt entgegenwirken.

ZEIT: Wenn Sie den Akzent auf Bildung legen, auf eine würdige Gestaltung des Gottesdienstes – haben Sie da nicht die Bedürfnisse einer bürgerlichen Schicht vor Augen? Kann von daher die Erneuerung des Protestantismus kommen?

Huber: Jedenfalls kann die Erneuerung des Protestantismus nicht dadurch gelingen, dass wir an dieser Schicht vorbeigehen. Wer die ganze Gesellschaft erreichen will, der darf nicht die Meinungsführer, die die gesellschaftliche Atmosphäre prägen, ausschließen. Ich mag das Wort Funktionselite nicht, weil es um das Ansprechen von Personen, nicht von Funktionsträgern geht. Aber dass es eine Verantwortungselite immer gibt und dass der Protestantismus mehr tun muss, um die se Verantwortungselite zu erreichen und selbst in ihr vertreten zu sein – das ist eine wichtige Dimension des Erneuerungsprozesses.

ZEIT: Sie haben ein Reformpaket vorgelegt, profan gesprochen: eine Kreuzung aus Schröderscher Agenda 2010 und Leipziger Parteitag der CDU. Sie wollen aus 23 Landeskirchen 8 oder 12 machen, also gewissermaßen 23 Ministerpräsidenten dazu bringen, sich teilweise selbst abzuschaffen. Wie können Sie das schaffen?

Huber: In den vergangenen zehn Jahren haben wir bei uns in der Landeskirche den Bestand an Mitarbeitern um rund ein Viertel reduzieren müssen. Wir haben den Pfarrerinnen und Pfarrern eine erhebliche kollektive Gehaltseinbuße über lange Jahre zugemutet. Vorher hat es geheißen: Das kriegt ihr nie hin. Es ist aber gelungen, weil die Beschäftigten sich nicht nur als Opfer solcher Veränderungen verstanden haben, sondern als Mitträger. Sie haben genau gespürt, dass die Kirche das Problem nicht einfach in die Zukunft verschieben kann. Denn die Kirche ist kein Zwangsverband, in dem die Zwangsmitglieder aus der nächsten Generation etwa die Schulden von heute bezahlen müssen, weil das Problem heute nicht gelöst wird. Wir müssen unsere Aufgaben jetzt gemeinsam in Angriff nehmen.

DIE FRAGEN STELLTEN JAN ROSS UND BERND ULRICH