"Wir dürfen keine Verwahrlosung im Menschenbild zulassen"

EKD-Ratsvorsitzender im Interview mit der Berliner Zeitung

23. Oktober 2006


Der EKD-Ratsvorsitzende und Berliner Bischof Wolfgang Huber über Armut, Hartz IV, die Verantwortung der Wirtschaft und die Rolle des Fernsehens

Der Berliner Bischof Wolfgang Huber, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), ist überzeugt, dass sich die Kirche in politische Debatten einmischen sollte. Er hat immer wieder eine Reform der Sozialsysteme angemahnt, fordert aber die "gerechte Teilhabe" aller Bürger.

Bischof Huber, in Deutschland wird über die "Unterschicht" diskutiert. Was halten Sie von der Debatte?

Der Begriff Unterschicht hat etwas Verführerisches und Irreführendes. Wenn man über Schichten redet, denkt man, sie sind klar voneinander abgegrenzt, und jemand, der zur Unterschicht gehört, hat keine Chance, da herauszukommen. Der Begriff verführt dazu, dass man sich der Verantwortung entzieht, etwas zu ändern. Der Begriff Unterschicht vermittelt den Eindruck, dass Menschen "abgehängt" sind. Es muss aber darum gehen, jedem Menschen die elementare Chance zu geben, an Bildung und Arbeit in unserer Gesellschaft teilzuhaben. Denn Armut ist nicht nur materiell, sondern auch sozial spürbar. Es ist ein Teufelkreis, wenn Menschen jede Perspektive verlieren und ihre eigene Resignation an ihre Kinder weitergeben.

Wer ist verantwortlich dafür?

Die Verantwortung liegt bei der Gesellschaft im Ganzen. Wir müssen uns stärker darum kümmern, welche Lebensgeschichte und Lebensumstände jemanden in eine solche Situation bringen. Aber die Verantwortung liegt natürlich in besonderer Weise bei Politik und Wirtschaft.

Welche Fehler macht die Politik?

Trotz hoher Sozialausgaben des Staates werden die Mittel nicht zielgerichtet genug eingesetzt, so dass sie in zureichendem Maß den Bedürftigen zu gute kommen. Die Balance von "Fordern und Fördern", die ein richtiges Stichwort in der Arbeitsmarktpolitik war, ist noch nicht gefunden.

War Hartz IV ein Schritt in die richtige oder in die falsche Richtung?

Hartz IV war ein Schritt in die richtige Richtung. Die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe war unausweichlich. Die zeitliche Befristung des Arbeitslosengeldes hat aber nur Sinn, wenn den Empfängern realistische Hoffnung gemacht werden kann, dass sie wieder Arbeit bekommen. Das ist in ganz vielen Fällen nicht so; und Hartz IV wird zur Rutschbahn in die Armut.

Welche Verantwortung trägt die Wirtschaft?

Sie muss zusammen mit der Politik Formen finden, in denen auch Menschen mit niedrigerer Qualifikation Arbeitsplätze bekommen, die finanzierbar sind. Und sie darf nicht länger stolz sein, wenn sie Arbeitsplätze abbaut und zugleich Renditen steigert.

Wie erklären Sie sich, dass die Zahl der Menschen, die sich sozial ausgegrenzt fühlen, im Osten viel höher ist als im Westen?

Die höhere Arbeitslosigkeit ist die Hauptursache. Der Osten ist zwar als Absatzmarkt für den Westen in Anspruch genommen worden, aber er hat keine eigene, sich selbst tragende wirtschaftliche Entwicklung genommen.

Könnte es auch daran liegen, dass viele Ostdeutsche höhere Erwartungen an den Staat hatten und enttäuscht worden sind?

Die Westdeutschen haben sich genauso auf die Fürsorge des Staates verlassen, auch wenn der nicht ganz so paternalistisch war wie der DDR-Staat. Die allermeisten Ostdeutschen haben stets eine große Fähigkeit gezeigt, sich an gegebene Bedingungen anzupassen und in deren Rahmen ihren Beitrag zu leisten. Das Kernproblem ist für viele, dass dieser Beitrag nach der Wende nicht mehr von ihnen erwartet wurde. Ich kann verstehen, dass das Menschen in Verdrossenheit und Resignation treibt. Dass die Verdrossenheit sich gegen den Staat richtet, den man als "Reparaturbetrieb" sieht, mag sich aus der Geschichte erklären. Aber das Hauptproblem sind ungleiche Lebensbedingungen - mit der Folge: Viele Menschen im Osten haben das Gefühl, nicht gebraucht zu werden.

Was muss getan werden?

Es muss gezielt Maßnahmen geben, um Arbeitsplätze für ältere Arbeitnehmer im Osten zu schaffen. Minister Müntefering hat ja damit begonnen, aber es ist wieder ganz still darum geworden. Das Problem der Chancengleichheit stellt sich ähnlich auf der Seite der Jungen: Im Westdeutschland der 70er-Jahre ermöglichte man es deshalb Kindern aus einfachen Familien durch Bafög und zweiten Bildungsweg zu studieren - siehe Ex-Kanzler Gerhard Schröder.

Ist unsere Gesellschaft heute undurchlässiger?

In vielen Familien vererbt sich die Bildungsferne. Die Hauptschule ist zu einer Restschule geworden, aus der man nicht mehr in bessere Ausbildungsgänge herauskommt. Ich glaube, dass eine verstärkte Aufmerksamkeit für diese Probleme nötig ist. Nicht nur, weil man es sich aus ökonomischer Sicht nicht leisten kann, Begabungsreserven ungenutzt zu lassen. Noch wichtiger ist: Der Zugang zu Bildung und selbstbestimmtem Leben darf nicht von der Herkunft abhängig sein.

Harald Schmidt hat den Begriff "Unterschichten-Fernsehen" geprägt. Tragen Sendungen über Supermodels und Superstars, Nachmittags-Talkshows mit zweifelhaften Themen und Gästen zu einer gesellschaftlichen Verwahrlosung bei?

Medienkonsum ist immer eher mit Passivität als mit Aktivität verbunden. Kritik an einzelnen Sendungen hilft nur begrenzt, so notwendig die Kritik auch sein mag. Die wichtigere Frage ist, ob Menschen den Antrieb zu anderen Tätigkeiten haben. Das Niveau mancher Fernsehsendungen unterfordert die Zuschauer, es ist nicht anregend und nicht dazu geeignet, sie lebendig zu halten und aus einer reinen Konsumentenhaltung herauszuführen.

Müssen die Kirchen angesichts solcher Verwahrlosung gegensteuern?

Es ist eine neue Diskussion darüber entstanden, was eigentlich tragende Werte in unserer Gesellschaft sind. Tragend ist die Überzeugung, dass jeder Mensch die gleiche Würde hat. Jede "Unterschichten-Debatte" dagegen vermittelt den Eindruck, dass wir zwischen Menschen erster und zweiter Klasse zu unterscheiden beginnen. Diese Verwahrlosung im Menschenbild dürfen wir nicht zulassen. Das müssen wir uns klarmachen, bevor wir über Verwahrlosung im Einzelfall diskutieren. Ich sehe auch einen Zusammenhang mit der Diskussion in Berlin über Ladenöffnungen am Sonntag: Das zielt darauf, Menschen nur noch zu Konsumenten zu machen. Eine Stadt, die zehn Sonntage für den Kommerz freigeben will, zeigt, dass die Wertedebatte keinen Rang für sie hat. Bei solchen Entscheidungen wird offenkundig nicht mehr danach gefragt, welches Maß an gemeinsamer Zeit Menschen für ihr Miteinander brauchen.

Was halten Sie von den Plänen der Bundesregierung, Krebskranke, die nicht bei Vorsorgeuntersuchungen waren, stärker zur Kasse zu bitten?

Die stärkere Verschiebung von der Therapie zur Vorsorge muss zentrales Element der Gesundheitsreform sein. Ich finde es richtig, dass Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Gesundheit und der Möglichkeit von Vorsorge nicht ohne Konsequenz bleibt. Man trägt ja mit Prävention dazu bei, dass die Belastungen für die Gemeinschaft nicht ins Riesenhafte steigen. Die Anreize für Vorsorge müssen gestärkt werden. Aber es muss dabei faire Übergangsregelungen geben.

Das Gespräch führte Regina Kerner.

Quelle: Berliner Zeitung vom 23. Oktober