Was würde Jesus dazu sagen? Deutsche Einheit und das Zusammenwachsen Berlins

Wolfgang Huber - Kolumne in der BZ

05. Oktober 2006


Das Brandenburger Tor gilt als der zweitwichtigste Ort in unserem Land. Zwischen dem Kölner Dom und der Schlosskirche in Wittenberg wurde es bei einem entsprechenden Wettbewerb platziert.

Wir in Berlin haben an der Bedeutung des Brandenburger Tors keinen Zweifel. Es ist das wichtigste Symbol für die Einheit der Stadt, für die Einheit Deutschlands, für die Einheit Europas. Jahrzehntelang war es nach Westen durch die Mauer abgeschirmt. Wer es von Westen aus sehen wollte, musste dafür auf ein Podest steigen. Für Staatsgäste war das ein Pflichttermin. Das Tor war zum Symbol der Teilung geworden.

Deshalb wurde hier auch der Fall der Mauer besonders heftig gefeiert. Ich habe es selbst am 10. November 1989 erlebt – damals noch als Gast unserer Stadt. Nie werde ich das vergessen. Groß war der Jubel auch, als am 22. Dezember 1989 ein Grenzübergang geöffnet wurde und der Durchgang durch das Tor wieder möglich war. Der Jubel wiederholte sich erst recht, als am 3. Oktober 1990 die deutsche Einheit zu feiern war.

Keine andere Stadt in Deutschland verfügt über ein Symbol, das so stark den Wandel von der getrennten zur vereinten Nation anzeigt. Kein anderes Bauwerk verkörpert die sechzehn Jahre des Zusammenwachsens unserer Stadt und unseres Landes so wie dieses Tor.

Viele kleiden ihre Erinnerung an diese Jahre in den Ton der Klage. Wenn es um die deutsche Einheit geht, entsteht oft ein Wettstreit darum, wer es am schwersten hat. Wir vergleichen, ohne im Sinn zu behalten, wie Jesus das Vergleichen bewertet hat: „Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein.“ Es geht nicht darum, alles besser zu können als die anderen. Es geht aber auch nicht darum, Weltmeister im Klagen zu sein. Die Frage heißt: Was dient dem gemeinsamen Leben? Dazu müssen wir auch das Gute anerkennen, das wir erlebt haben.

Einen Wandel im Frieden haben wir erlebt. Jeder kann seine Meinung frei äußern. Unser Land hat eine anerkannte Stellung in der Welt und nimmt seine internationale Verantwortung wahr. Deutsche aus Ost und West haben in großer Zahl im jeweils anderen Teil eine neue Heimat gefunden. Auf dieser Grundlage könnten wir auch mit den anstehenden Schwierigkeiten selbstbewusster umgehen: die Arbeitslosigkeit beharrlich bekämpfen, die notwendigen Reformen beherzt angehen. Wir sollten nicht die eigene Lage madig machen; wir sollten nach dem besten Weg Ausschau halten.

Heute steht das Brandenburger Tor offen. Es ist ein Zeichen für die Einheit unseres Landes. An ihm treffen sich Menschen vom Schwarzwald bis nach Usedom. Wir sollten nicht nur unsere Sorgen miteinander vergleichen. Wir sollten auch dem Dank und der Freude gemeinsam Ausdruck geben.