Für eine Ethik des Konsums

Beitrag anlässlich der Fachtagung „Der Verbraucher – das unbekannte Wesen“

28. September 2006


Von:

Ausschuss Dienste auf dem Lande in der EKD (ADL)
Katholische Landvolkbewegung Deutschlands (KLB)
Deutscher Bauernverband (DBV)
Deutscher Landfrauenverband (DLV)

Im Vorfeld des Erntedankgottesdienstes mit Übergabe der Erntekrone an den Bundespräsidenten Horst Köhler am Freitag, 29.09.2006

(1) Der ständige Ruf nach Ethik ist Ausdruck von Hilf- und Orientierungslosigkeit menschlichen Verhaltens und Handelns in unserer komplexen Lebens-wirklichkeit. Auf Rücksichtslosigkeit, Verantwortungslosigkeit, kurzfristige Vorteilsmaximierung oder Karrierestreben wird eine Wirtschafts- und Unternehmensethik, eine neue politische Ethik gefordert -- und in diesem Rahmen eben auch eine "neue Verbraucherethik". Damit wird unterstellt, dass der Verbraucher sich maßlos, verschwendungssüchtig, billig, ausschließlich egoistisch motiviert bei seinem Konsum verhält (Rabattschlachten, Schnäppchenjagd, etc.) Es fehlt also bei Verbrauchern eine Orientierung für "Preiswertigkeit". Der Preis als alleiniger Orientierungsmaßstab wird hinterfragt -- deshalb "Ethik des Konsums" bzw. "Verbraucherethik".

(2) Ethik begründet die subjektive Entscheidung für das Tun oder Unterlassen menschlichen Verhaltens und Handelns. Dies schließt die Verantwortung für das eigene Handeln ein. Die Begründung einer Werteorientierung erfolgt in der Regel zwischen gut-schlecht, richtig-falsch, fair-unfair, wahr-unwahr, hilfreich-schädlich usw. Gefragt ist eine selbst verantwortete Begründung, die sich nicht auf Tradition ("es war schon immer so") oder Mehrheitshandeln ("die anderen tun es auch") zurückzieht. Für Christen stehen christliche Werte als Begründungszusammenhang für eigenes Handeln im Vordergrund: die Anerkennung der Menschenwürde, welche gekennzeichnet ist:

- der Mensch ist Gottes Geschöpf ("Ebenbildlichkeit")

- die menschliche Bestimmung ist irdisch begrenzt, zeitlich jedoch übergreifend ("Ewigkeit")

- der Mensch ist seit dem Sündenfall ein Irrtumswesen und ihm ist von und vor Gott die Chance zu Buße, Vergebung und Neubeginn gegeben.

Menschenwürde setzt Glaub- und Vertrauenswürdigkeit zu sich selbst voraus, um sein eigenes Handeln ethisch zu verantworten ("Gewissen").

(3) Verhalten in der Moderne entzieht sich der eigenen Verantwortung immer mehr, indem man nicht Eigenbegründungen für sein Verhalten sucht, sondern die ethische Legitimation an andere Kompetenzstellen delegiert. In nahezu allen Lebensbereichen verweist man auf Kompetenzen anderer (Zuständigkeiten, Sachkundigkeiten, Maßgeblichkeiten): für Erziehungsfragen, Wertevermittlung, Umgang mit der Informationsflut, Umgang mit Fremden -- eben auch für sein Verbraucherverhalten, weswegen Verantwortungen an Agrar- und Ernährungskompetenzen delegiert werden (Verbraucherzentralen, Schulungen, Haushaltsführerschein, Fachkräfte für heimische Landwirtschaft, Landfrauenservice, Plattform Ernährung und Bewegung, Stiftung Warentest, Qualitätssicherungssysteme, usw.)

(4) Wenn nach einer "Verbraucherethik" gefragt wird, bezieht sich dies nicht nur auf Ernährung, sondern ist kennzeichnend für die gesamte Waren- und Dienstleistungsbranche, wo aggressive Preisstrategien der Unternehmen, Konzentrationsprozesse und Preisfixierungen der Verbraucher festzustellen sind (Flüge, Textilien, Wohnen, Urlaub, usw.). Für eine "neue Ethik des Konsums" ist insbesondere auch das Einkaufs- und Ernährungsverhalten aus christlicher Sicht bedeutsam. Die Bitte um das "täglich Brot" im Vater unser lässt eine besondere Verantwortung für die Brotherstellung, den eigenen Brotgebrauch und die Zusammenhänge der Brotverteilung gegenüber den Nächsten in den Blick rücken. Darüber hinaus sind schöpfungstheologische Zusammenhänge mit der Erzeugungsgrundlage des täglich Brot verbunden, wobei Brot stellvertretend für alle Lebensmittel steht. Von daher ist auch der Bezug von Lebensmitteln als Mittel zum Leben im Unterschied zu Nahrungsmitteln zur reinen physiologischen Sättigung des Körpers mit Kalorien zu unterscheiden, weswegen eine besondere Wertebegründung für das Ernährungsverhalten aus christlicher Sicht über die ausschließliche materielle Begründung ("satt, billig und viel") hinausweist.

(5) Verbraucher sind in der modernen Konsumgesellschaft durch die Vielzahl und Vielfalt an Waren und Dienstleistungen und die damit verbundenen Sachinformationen und Werbebotschaften einschließlich widersprechender Kommentierungen irritiert und überfordert. Daraus ergibt sich aus einem Gefühl der Ohmacht eine "Gleich-Gültigkeit", so dass die Waren- und Dienstleistungen unabhängig von ihrer qualitativen Beschaffenheit, Herkunft, etc. für den Nutzen des Verbrauchers als "gleich-gültig" wahrgenommen werden. Diese Gleich-Gültigkeit ist nicht nur Ausdruck von Desinteresse an einer ethischen Begründung für die Auswahl, sondern eine Bewältigungsstrategie, um einer eigenen ethischen Begründung entgehen zu können. Diese wird an andere Kompetenzstellen delegiert -- für Lebensmittel z.B. an Discounter wie Aldi und Lidl, welche einem die Auswahl durch Reduktion in Angebot, Präsentation, Service, Ambiente, Personal und eben auch Preisgestaltung bzw. Preis-wertigkeit abnehmen. Sobald diese Kompetenzstellen (zuständig, sachkundig und maßgebend) Schwächen aufweisen, müssen sie sich darum bemühen, gegenüber den Verbrauchern ihre ethische Legitimationsinstanz zu behaupten (Rückrufaktionen, Qualitätssicherungs-Systeme, "noch billiger" oder jetzt bei Lidl "öko-fair").

(6) Unsere komplexe Lebenswirklichkeit ist Fakt. Daraus ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen pragmatischem Verbraucherverhalten (Zeit, Geld, Informationsüberdruss, Bequemlichkeit) und einer Verbraucherethik. Schnell erfolgt dann eine Abqualifizierung des Verbraucherverhaltens durch die Polarisierung in "gut" oder "schlecht" ("Klasse statt Masse"). Aber auch ein multi-optionales, scheinbar widersprüchliches Verbraucherverhalten, kann ethisch begründet sein. Deshalb ist eine Abqualifizierung kontraproduktiv, weil sie einen spezifischen Verbraucherstatus sanktioniert und die betroffenen Verbrauchergruppen stigmatisiert. Dadurch entzieht man jenen jedoch die Chance und Verpflichtung ihr eigenes Konsumverhalten ethisch zu begründen und fördert eher ein ethisch unbegründetes Regelverhalten ("self-fulfilling prophecy").

(7) Eine Ethikdiskussion des Konsums ist eine grundsätzliche Frage nach der Lebensqualität. Mögliche Begründungen für gelungene oder misslungene Lebenszufriedenheit verbinden sich mit Werteorientierungen ("Geld macht nicht glücklich" oder "Zeit ist Geld"), woraus Überfluss, Überdruss, Hektik und Stress resultieren. Der Bezug zur individuellen Menschenwürde weist zu einer Antwort auf die Frage: Was bin ich mir als Mensch wert ("habe ich billig für mich, meine Familie, meine Gäste, nötig?"). Daraus ergibt sich erst eine Kundensouveränität, die losgelöst von rein pekuniären Kriterien ("billig") oder Werbebotschaften ("bunt") selbst bestimmt, genussorientiert und damit subjektiv begründet auswählt, entscheidet und verbraucht, woraus sich ein reflektiertes Selbstbewusstsein als Verbraucher entwickeln kann.

(8) Eine Ethik des Konsums erweitert den Horizont der Menschenwürde über den individuellen Bezugsrahmen hinaus, auch in Verantwortung für die Menschenwürde anderer. Konkret wird die eigene Entscheidung für den Konsum in seinen Folgewirkungen in einen räumlichen Verantwortungs-horizont (lokal, regional, national, global) sowie in einen zeitlichen Verantwortungshorizont (die Tradition der Vorväter, hier und heute, die nachfolgende Generation) gestellt, was mit dem Leitbild der Nachhaltigkeit verbunden wird.

(9) Eine Ethik des Konsums fragt nach konkreten Leitbildern:

- was ist ein problematischer Konsum

- welche Handlungsoptionen gibt es für mich alternativ

- nach welchen Werten richte ich meine Verbraucherentscheidung aus

- wo ergeben sich Zielkonflikte für mich

- wie bewerte ich grundsätzlich die Handlungsalternativen und wie entscheide ich mich unter einem konkreten situativen Kontext unter Umständen auch anders als es meiner Werteorientierung entsprechen würde.

(10) Eine Ethik nachhaltigen Konsums bringt auch für den Verbraucher subjektiv Vorteile. Er ist nicht mehr fremdbestimmt als rein konsumorientierter Verbraucher, sondern ein selbst bestimmter kundiger Kunde, der begründet und wissend sich entschieden hat. Aufgrund dieses Entscheidungsprozesses über sein eigenes Konsumleitbild folgt nicht nur eine Wissensschärfung, sondern auch eine Ge-Wissensschärfung. Daraus entspringt die Chance von Solidarerfahrung (gutes Gefühl der Gemeinschaft) im Dienste einer guten Sache (Gesundheit, Umwelt, Entwicklungsländer, Landschaft, Ästhetik, regionale Wirtschaftskreisläufe, soziale Fairness), für die man sich einsetzt. Innerhalb des Konsums kann aus sinnstiftendem Handeln die persönliche Identität gestärkt werden ("Selbstvergewisserung").

(11) Eine neue Ethik des Konsums ist eng mit der Frage der Chancengleichheit als gerechte gesellschaftliche Teilhabe zur Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität sowie selbst bestimmten ethischen Konsumverhaltens verbunden. Ansonsten verliert eine neue Ethik des Konsums ihre ethische Legitimation, wird von bestimmten Verbrauchergruppen stilisiert ("Habitus") und grenzt bestimmte soziale Gruppen aus (siehe Denkschrift der EKD zur Armut).

Berlin, 28. September 2006

Dr. Clemens Dirscherl
Beauftragter des Rates der EKD für agrarsoziale Fragen