Eine Dynastie Christi?

Zur politischen Theologie Dan Browns

24. Mai 2006


Thomas Macho*

Nach den Harry Potter-Romanen triumphiert seit 2003 Dan Browns »Da Vinci Code« als ultimativer Bestseller, der die krisengebeutelten Verlagsmanager auf der ganzen Welt vor Neid erblassen lässt. Das Buch wurde bisher in 44 Sprachen übersetzt und in mehr als vierzig Millionen Exemplaren verkauft. Der Tod des Papstes am 2. April 2005, danach ein viel kommentierter Plagiatsprozeß in London, haben die Verkaufsstatistiken in schwindelerregende Höhen katapultiert; Ron Howards eben erst anlaufende Verfilmung des Romans (mit Tom Hanks, Audrey Tautou und Jean Reno in den Hauptrollen) wird wohl den Autor, die Verlage, Kinos und Buchhandlungen mit neuen Umsatzsteigerungen beglücken.

Dieser beispiellose Erfolg hat intensive Fahndungen nach dem Heiligen Gral der Gründe für eine solche Begeisterungswelle ausgelöst. Was fasziniert das Publikum an einem Thriller, der kunst- und religionsgeschichtliche Themen zu einer Verschwörungs- und Kriminalerzählung verdichtet? Manche Antworten liegen auf der Hand.

Dan Brown hat mit einem gewissen Geschick aktuelle Trends bedient, etwa den Trend zur Verschmelzung von Wissenschaft und Fiktion, den die naturwissenschaftlich fundierten Thriller Michael Crichtons oder die historisch inspirierten Kriminalromane Philip Kerrs seit vielen Jahren stimulieren, ganz abgesehen von Sachbüchern wie Dava Sobels »Longitude« (1995), die ihr Publikum durch biographische Narrationstechniken – als »true story of a lone genius who solved the greatest scientific problem of his time« – anziehen.

Gleichfalls im mehrjährigen Trend liegen Konspirationstheorien und Geheimcodes, bezeugt durch Romane wie »Enigma« von Robert Harris (1995) oder Sachbücher wie Simon Singhs »Code Book« (1999); und spätestens nach dem »Bible Code« (1997) von Michael Drosnin, dem Verfasser einer Enthüllungsbiographie über Howard Hughes (1985), schien dieser Trend auch die Religionsgeschichte erfasst zu haben. Zum imposanten Erfolg des »Da Vinci Code« mag darüber hinaus die Gralslegende beigetragen haben, die im 20. Jahrhundert – von Wagners »Parsifal« bis zu Steven Spielbergs »Indiana Jones and the Last Crusade« (1989) – erneut popularisiert wurde. Und gewiss bildet auch die weltweite Beunruhigung nach den Anschlägen vom 11. September einen latent paranoischen Rahmen, vor allem im Kontext von Deutungsmustern, die einen »Clash of Religions« nicht nur mit dem islamischen Dschihad, sondern auch mit den mittelalterlichen Kreuzzügen assoziieren.

Alle diese Erklärungen wirken plausibel; dennoch bleibt ein irritierender Rest, der durch übliche Motivforschung nicht erhellt wird. Was bringt etwa den Vatikan – mit seiner mehr als tausendjährigen Erfahrung im Umgang mit Häresien und apokryphen Narrationen – so in Aufruhr, dass der Kurienkardinal Francis Arinze oder Tarcisio Bertone, Erzbischof von Genua, gleich einen Boykott des Films propagieren, übrigens im Gegensatz zu ihrem Berliner Amtskollegen, dem Kardinal Georg Sterzinsky? Adversus Haereses? Ganz offensichtlich ist es nicht das »gnostische Rezidiv« (Odo Marquard), das innerkirchliche Aufregungen verursacht. Die Kodices von Nag Hammadi, die Dan Brown zu seinen Quellen zählt, sind ja seit einer Reihe von Jahren übersetzt und bekannt; und eine feministische Lektüre der »Gnostic Gospels«, etwa mit Blick auf die unterschätzte Rolle der Maria Magdalena, hat Elaine Pagels schon 1979 vorgeschlagen.

Ist es also wirklich nur der Zölibat oder die Forderung nach der Ordination von Priesterinnen, die – wie zahlreiche Kommentatoren vermuten – den Protest Roms provozieren, so als wäre diese Debatte nicht schon seit Luthers Zeiten geführt worden? Oder ist es bloß die Kritik an katholischen »Geheimbünden« wie Opus Dei, die doch ebenfalls – seit der barocken Polemik gegen die Jesuiten – auf ehrwürdige Traditionen zurückblicken kann? Mit den zitierten Vermutungen wird jedenfalls kein »Sakrileg« erfasst, wie es der Titel der deutschen Buchübersetzung zu versprechen scheint.

Dabei zielt die eigentliche Pointe des Romans durchaus ins Zentrum jeder politischen Theologie seit den Paulusbriefen: nämlich in Gestalt der Fiktion einer bis heute überlebenden Dynastie Christi. Um diese Pointe verstehen zu können, muss zunächst an die Ursprünge des Christentums erinnert werden. Die christlichen Evangelien antworteten auf den Jüdischen Krieg und die Zerstörung des Tempels (im Jahre 70) mit der apokalyptisch geprägten »frohen Botschaft« vom nahen Ende der Welt und der unmittelbar bevorstehenden Wiederkehr des Erlösers, der ein Himmelreich auf Erden begründen werde: ein Himmelreich ohne Tod, folglich auch ohne Geburten.

In den Evangelien werden die Verwandtschaftsbindungen an zahlreichen Stellen abgelehnt. Dem Boten, der ihm den Besuch der Brüder und seiner Mutter ankündigt, antwortet Jesus bekanntlich: »Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?« [Mt. 12,48] Und noch schärfere Worte findet er ausgerechnet in der Bergpredigt: »Ihr sollt nicht wähnen, dass ich gekommen sei, Frieden zu senden auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater und die Tochter wider ihre Mutter und die Schwiegertochter wider ihre Schwiegermutter«. Denn wer »Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist mein nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert.« [Mt. 10,34-37]

Die antigenealogische Haltung teilten die Evangelien mit den gnostischen Apokryphen. Und diese politisch-theologische Position wurde auch in den folgenden Jahrhunderten nicht aufgegeben: weder aufgrund enttäuschter apokalyptischer Erwartungen noch aufgrund der konstantinischen Wende und der allmählichen Durchsetzung des Christentums als Staatsreligion des römischen Reichs. Niemand sollte zum Christen avancieren durch seinen Rang oder durch höhere Geburt; insofern etablierte sich das Christentum tatsächlich als »absolute Religion« (im Sinne Hegels) oder als »Sklavenreligion« (im Sinne Nietzsches).

An die Stelle der Geburt trat die Taufe, an die Stelle der Eltern die Paten. Ins Kloster traten keine Mönchskinder ein, und zu Priestern wurden nicht die Nachkommen von Priestern geweiht. Die Sukzession der Kirchenämter folgte einer Logik der Berufungen, keiner dynastischen Logik der Stammbäume. Diese Organisationsform der geistlichen Macht musste lange Zeit – vor und nach dem Investiturstreit – gegen die weltliche Macht der mittelalterlichen Könige verteidigt werden; denn die »rois thaumaturges« (Marc Bloch) legitimierten ihre Herrschaft häufig durch die behauptete Herkunft aus dem Hause Davids, also durch ihre Verwandtschaft mit Jesus Christus. Der Zölibat, anfänglich bloß ein Ehe- und kein Sexualverbot, verdeutlichte die Radikalität der eigenen Haltung: Papst- oder Pfarrerskinder sollten zumindest nicht als legitime Nachfahren und Erben innerhalb der Kirche auftreten können.

Eine Dynastie Christi? Warum kulminiert die Verklärung Maria Magdalenas ausgerechnet in der Fiktion vom Überleben der Kinder Christi in den Merowingern? Im Gewand der progressiven Kritik an der kirchlichen Ausschließung der Frauen verkörpert Browns dynastische Suggestion ein Ideal, das im Kern reaktionärer ist als der schlimmste geheime Männerbund. Gewiss ist die kirchenpolitische Misogynie längst revisionsbedürftig; denn stets zu Unrecht wurden die Frauen – wenngleich nicht nur in der katholischen Kirche, sondern bereits in der griechischen Antike, von der »Antigone« bis zu Platons »Politeia« – verdächtigt, gleichsam eine »Mutterpolitik« der Verwandtschaftsordnungen zu vertreten (was übrigens noch Hegel zu den berühmten Sätzen im § 166 seiner »Rechtsphilosophie« verführte, mit Frauen ließen sich zwar Familien, aber keine Staaten lenken).

Doch wird gerade die evidente Kritik an solcher Identifikation des Weiblichen mit der Natur des Gebärens und den elementaren Gesetzen der Blutsverwandtschaft in Dan Browns Thriller ausgehebelt; die Enthüllung der geheimen und verdrängten Geschichte des Christentums gipfelt in der Aufdeckung einer verborgenen Dynastie. Ein altes Vorurteil gegen die Frauen wird also vordergründig widerlegt, zugleich aber bestätigt.

Der Heilige Gral des Massenerfolgs von Dan Browns Thriller ist schlicht und einfach die Gebärmutter Maria Magdalenas. In seiner Faszination für die Dynastie Christi (und Maria Magdalenas) folgt der »Da Vinci Code« dem aktuellsten Trend überhaupt: dem Trend zu einer – seit der Entzifferung des »Codes aller Codes« – biotechnologisch ermöglichten Wiederkehr der Stammbäume und genealogischen Diskurse. Hätten wir nur eine einzige Knochenreliquie Jesu oder zumindest Maria Magdalenas, wir könnten zahlreiche Kindeskinder dieser Verbindung (durch DNA-Analyse) ihren prominenten Ureltern zuordnen; und womöglich könnten wir sogar den Erlöser klonen, um ihn zur längst angekündigten Wiederkehr zu nötigen.

*Thomas Macho ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin

Quellenangabe: Leicht gekürzt erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), Ausgabe vom Dienstag, 23. Mai 2006