Weiße Nacht in Turin

Olympiapfarrer Weber im Chaos

21. Februar 2006


"Was für ein Tag!", berichtet Olympiapfarrer Thomas Weber. Als er sich früh morgens auf den Weg nach San Sicario macht, um die deutschen Biathleten seelsorgerlich zu begleiten, ist die Welt noch in Ordnung. Die Stimmung vor Ort ist sensationell. Erst recht, als Kati Wilhelm aus Zella-Mehlis das 10 Kilometer-Jagdrennen gewinnt. Den zweiten olympischen Doppelsieg für die deutschen Biathletinnen macht Martina Glagow aus Mittenwald perfekt, die bereits im fünfzehn Kilometer-Einzelrennen Zweite geworden war. Als krönenden Abschluss gewinnt Sven Fischer vier Tage nach seinem Triumph im zehn Kilometer-Sprint erneut eine Medaille. Der Oberhofer belegt im zwölfeinhalb Kilometer-Jagdrennen den dritten Platz.

Während die Biathleten ausgelassen feiern und den erfolgreichen Tag Revue passieren lassen, ist unser Olympiapfarrer längst wieder auf Achse. Er fährt ins Olympische Dorf, um sich im Deutschen Büro über die Neuigkeiten des Tages zu informieren. Danach fährt er hektisch weiter nach Pragelato zum Skispringen. Bloß keine Zeit verlieren! Weber möchte rechtzeitig vor Ort sein, wenn die Skispringer über den Absprungbalken der Olympischen Großschanze gehen. Leider erwischen die deutschen Athleten nicht den besten Tag. Die Österreicher Kofler und Morgenstern segeln unter dem Jubel der Zuschauer auf 140 Meter hinab und gewinnen verdient.

Nach Ende der Veranstaltung strömt Weber mit den Zuschauermengen zum Ausgang. Um 22 Uhr kommt er völlig erschlagen in Turin an. "Nur noch schnell mit der Straßenbahn zur Unterkunft und sofort ins Bett", so lautet sein Plan zur späten Stunde. Weber bemerkt, wie sich immer mehr Menschen an der Haltestelle versammeln. Auffällig dabei ist, dass alle Zufahrten zur Innenstadt verstopft sind. Die Autos stauen sich, nichts geht mehr. Erst nach einer guten halben Stunde kommt die nächste, hoffnungslos überfüllte Straßenbahn. Weber quetscht sich hinein. Es geht nur langsam vorwärts. Je näher sich die Bahn in Richtung Zentrum vorwärts kämpft, desto dichter wird das Gewühl aus Menschen und Blechkarossen. Die Kreuzungen sind total blockiert. Überall ein wildes Hubkonzert. Entnervt steigt der Olympiapfarrer aus der Straßenbahn und beschließt, die letzten Kilometer zu Fuß zurückzulegen.

"Was ist bloß los, warum dieses Chaos?", wundert er sich. Ein Italiener erklärt: "Heute haben wir in Turin die weiße Nacht. Alle Geschäfte sind bis zum frühen Morgen geöffnet. Das Leben geht einfach weiter. Die Bars und Restaurants bleiben offen, die Kinos spielen ihr Programm. Und das 24 Stunden, rund um die Uhr."

Es dauert noch Stunden bis er im frühen Morgengrauen erschöpft zur Ruhe kommt.

Als Weber am nächsten Morgen völlig gerädert aufwacht, blickt er verschlafen aus dem Fenster. "Erst einmal die Lage peilen", sagt er sich. Es regnet in Strömen. "In den Bergen wird es schneien. Heute sind wohl keine Wettkämpfe möglich", so Webers Prognose für den Tag.

Die Stadt, die gestern noch voller Leben war und aus allen Nähten zu platzen schien, ist heute menschenleer.  Es fahren kaum Autos auf den Straßen. Alles ist ruhig und entspannt. "Wie gut, dass die Woche nicht nur aus sechs Tagen besteht. Heute ist Sonntag, der Tag des Herrn. Was für ein Timing! Alles ist zur Ruhe gekommen, auch in Turin. Ein Segen!", so Weber.

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