"Prophetisches Wort"

Mit der Ostdenkschrift von 1965 ebnete die EKD den Weg für die Verständigung mit Polen

29. September 2005


Von Rainer Clos

Frankfurt a.M. (epd). Kirche will keine Politik machen, sondern Politik möglich machen. Dieser Anspruch, den die evangelische Kirche für alle ihre Stellungnahmen zu Zeitfragen reklamiert, gilt ganz besonders für die so genannte Ostdenkschrift. Sie wurde unter dem langatmigen Titel «Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn» vor fast genau 40 Jahren veröffentlicht. Das Dokument der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zielte darauf ab, zur Überwindung der «politischen Sprachlosigkeit» beizutragen, urteilt der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Rückblick. Er gehörte als Mitglied der EKD-Kammer für öffentliche Verantwortung zu den Verfassern.

Ziel des nach Erscheinen stark umstrittenen Kirchenwortes war es, die Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen nach einer leidvollen Geschichte zu fördern. Dies erfolgte, indem die EKD zum Anspruch auf die früheren deutschen Ostgebiete Stellung bezog. In dem Text wurde das Unrecht gegenüber den deutschen Vertriebenen beklagt, zugleich aber empfohlen, das Heimatrecht der polnischen Bevölkerung in den Gebieten jenseits von Oder-Neiße-Linie anzuerkennen und nicht durch Vertreibung neues Unrecht zu schaffen. Im Klartext plädierten die Verfasser dafür, sich von Positionen zu lösen, die auf eine Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 beharrten.

War Aussöhnung in Richtung Osten Motiv der EKD-Denkschrift, so wirkte sie in der damaligen bundesdeutschen Öffentlichkeit zunächst polarisierend und spaltend. Die Empörung - nicht allein bei den Verbänden der Heimatvertriebenen - fiel heftig aus. Verrat und Verzicht waren die Vorwürfe, mit denen sich die evangelische Kirche konfrontiert sah. Neben den Vertriebenen waren es vor allem konservative Kreise in Politik, Gesellschaft und Kirche, die mit Ablehnung reagierten und die kirchliche Einmischung kritisierten.

Die politischen Wirkungen der Ostdenkschrift gelten unter Historikern als weithin unbestritten. Auch wenn sich die offizielle Politik zunächst mit Reaktionen zurückhielt, so gab es indirekt Signale, dass man auf ein solches Wort gewartet habe. Für die Neuausrichtung der Ost- und Deutschlandpolitik, die unter der Großen Koalition nach 1966 eingeleitet wurde, war sie eines der auslösenden Momente. Zusammen mit dem Brief der katholischen Bischöfe Polens vom November 1965, in dem das polnische Episkopat Vergebung für deutsche Schuld aussprach und um Vergebung für polnische Schuld bat, förderte die Ostdenkschrift eine Annäherung zwischen Deutschland und Polen. Erstes greifbares Resultat dieser Initiativen war der deutsch-polnische Vertrag von 1970.

Jürgen Schmude, SPD-Politiker und langjähriger Präses der EKD-Synode, meint rückblickend, aus heutiger Sicht sei es gerechtfertigt, die Ostdenkschrift als «prophetisches Wort» einzuordnen: «Dass es ein prophetisches Wort werden würde, war weder den Verfassern klar, noch ließ es sich in der ersten Zeit erkennen.» Unbequeme Wahrheiten habe die Kirche darin gesagt, gefährlichen, falschen Hoffnungen widersprochen und Tabuschranken durchstoßen, so Schmude über den Rang der EKD-Schrift.

Doch dass der Verständigungsprozess zwischen Deutschen und Polen weiterer Schritte bedarf, illustriert die aktuelle Debatte um ein «Zentrum gegen Vertreibungen», für das sich der Bund der Vertriebenen stark macht. Dieses Konzept werde den bisherigen Schritten der deutsch-polnischen Versöhnung und der europäischen Dimension nicht gerecht, erklärten die EKD und der Polnische Ökumenische Rat gemeinsam zum 40. Jahrestages der Ostdenkschrift.

Denn es dürfe nicht vergessen werden, «dass die gemeinsame Erinnerung an das Unrecht der Vertreibungen nicht die Schuld des nationalsozialistischen Deutschlands am Ausbruch des Weltkriegs relativieren darf». Auch die katholischen Bischöfe beider Länder warnen vier Jahrzehnte nach dem historischen Briefwechsel vor einem «Ungeist des Aufrechnens», der der Versöhnung nicht diene.

Kirche brach Tabu der Anerkennung von Oder-Neiße-Grenze

Vor 40 Jahren sorgte die EKD-Ostdenkschrift für harte Auseinandersetzungen

Von Roland Löffler

Frankfurt a.M. (epd). Die Bundesrepublik Anfang der 1960er Jahre: Die deutschen Städte befinden sich im Wiederaufbau, die junge Demokratie und die soziale Marktwirtschaft haben sich stabilisiert. Dennoch mehrten sich die Stimmen, die an der Selbstzufriedenheit der Politiker Anstoß nahmen. Acht prominente Protestanten - darunter der Nobelpreisträger Werner Heisenberg, der Naturwissenschaftler Carl Friedrich von Weizsäcker und der Jurist Ludwig Raiser - lancierten 1961 das «Tübinger Memorandum» mit dem Motto: «Mehr Wahrheit in der Politik!»

Neben Reformen in der Sozial- und Bildungspolitik forderten sie eine «aktive Außenpolitik». Sie solle zwar an der Wiedervereinigung im europäischen Kontext festhalten, aber durch Verzicht auf die ehemaligen Ostgebiete einen Beitrag zur Entspannungspolitik leisten. Diese emotionale Diskussion ergriff auch die Kirchen, die wesentlich zur Integration der etwa acht Millionen Flüchtlinge in Westdeutschland beigetragen hatten. In der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) entstanden Hilfskomitees für Vertriebene sowie der Ostkirchenausschuss. Mit dem Schleswiger Bischof Reinhard Wester wurde sogar ein eigener EKD-Beauftragter für die Vertriebenen berufen.

Der Ostkirchenausschuss lehnte im März 1962 die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ab und verteidigte das «Recht auf Heimat». Dies provozierte in den evangelischen Leitungsgremien die Frage, ob ein kirchliches Wort zur Ostpolitik nötig sei. Der einflussreiche Bevollmächtigte der evangelischen Kirche bei der Bundesregierung, Bischof Hermann Kunst, mahnte zur Zurückhaltung. Wenn aber eine Erklärung, solle diese nicht im Ostkirchenausschuss, sondern in der «Kammer für öffentliche Verantwortung» erarbeitet werden, empfahl er.

Der vertrauliche Vorschlag war pikant, denn in der Kammer saß kein Vertriebener und der Kammer-Vorsitzende war Ludwig Raiser, einer der Autoren des Tübinger Memorandums. Der EKD-Rat zögerte mit einer Entscheidung, beauftragte dann Wester mit einem seelsorgerlichen «Wort an die Vertriebenen», das eine Brücke zwischen Ostkirchenausschuss und Tübinger Thesen schlagen sollte. Als dies misslang, wurde 1963 die Kammer mit einer Denkschrift beauftragt.

Zu den Beratungen gehörten auch Gespräche mit den ostdeutschen Mitgliedern, denn 1965 waren die EKD und ihre Gremien noch eine gesamtdeutsche Größe. In Ostberlin stieß das Vorhaben auf wenig Sympathie. Die DDR hatte die Oder-Neiße-Grenze schon 1950 anerkannt, weshalb die ostdeutschen Protestanten aus Angst vor SED-Repressalien vor einer Stellungnahme zurückschreckten.

So wurde die Denkschrift «Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn» ein reines Westprodukt. In dem 44-seitigen Dokument wurden die Vertreibungen eindeutig als Unrecht bezeichnet. Einseitige Annexionen seien völkerrechtlich nicht erlaubt und verstießen gegen das «Recht auf Heimat». Andererseits sahen die Autoren die Ursache der «über die deutschen Ostgebiete hereingebrochene Katastrophe» im «Zerstörungswerk des Nationalismus», im Hitler-Stalin-Pakt und den deutschen Kriegsverbrechen.

Dennoch könne die polnische Verwaltung in Schlesien, Pommern, Ostpreußen nur mit einer deutschen Anerkennungserklärung rechtmäßig werden. Dieser Schritt solle nicht voreilig geschehen. Gleichwohl habe Deutschland eine Friedenssicherungspflicht - und Polen aufgrund seiner «bitteren geschichtlichen Erfahrungen» ein «gesteigertes Recht» auf sichere Grenzen. Eine zukünftige Friedensordnung und die Versöhnung zwischen den Völkern seien ohne die Bereitschaft zur Aufgabe alter Rechtspositionen nicht zu haben. Weiter ging die Denkschrift nicht.

Die Ostdenkschrift kam durch eine gezielte Indiskretion des Vertriebenenpolitikers Herbert Czaja (CDU) früher als geplant an die Öffentlichkeit. Die katholische Wochenzeitung «Echo der Zeit» druckte Auszüge unter der provokativen Überschrift «Separate protestantische Außenpolitik» ab, worauf die EKD das Dokument veröffentlichte. Nach dem 15. Oktober brach ein Sturm der Empörung los. Kern der Auseinandersetzung war die Anerkennungsforderung der Oder-Neiße-Grenze. Kritiker aus den Reihen der Vertriebenen warfen der EKD vor, «unter der Maske der Versöhnung eine Propaganda des Verzichts» voranzutreiben. Wester trat zurück. Die Denkschrift-Autoren wurden mit übler Polemik überzogen und erhielten sogar Morddrohungen.

Weizsäcker: Ostdenkschrift war von zentraler Bedeutung

Berlin (epd). Altbundespräsident Richard von Weizsäcker hat an den Stellenwert der evangelischen Ostdenkschrift von 1965 für die deutsch-polnischen Beziehungen erinnert. «Die politische Behandlung der Folgen des schweren Vertriebenenschicksals hatte einen Tabucharakter angenommen. Das galt es, nicht länger hinzunehmen», sagte er in einem Interview mit epd. Weizsäcker gehörte der Kammer für öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland an, die vor 40 Jahren die Denkschrift verfasst hatte. Mit dem Altbundespräsidenten sprach Jutta Wagemann in Berlin.

epd: Herr von Weizsäcker, was gab der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD den Anstoß, die Ostdenkschrift zu verfassen?

Weizsäcker: Die Thematik der Ostdenkschrift war eine von der deutschen und polnischen Seite ungelöste Fragestellung. In der alten Bundesrepublik machten sich die politischen Parteien ohne Ausnahme noch nicht an die Aufgabe heran, die Vertreibung zwar menschlich zu würdigen, zugleich aber in ihren politischen Konsequenzen realistisch zu betrachten. Das hätte bedeutet, mit Polen endlich Verbindung aufzunehmen und damit die neue polnische Westgrenze ernst zu nehmen. Noch immer wurde der Vorstellung Nahrung gegeben, vielleicht käme es zu einem Friedensvertrag oder anderen Verhandlungen mit den ehemaligen Kriegsgegnern mit der möglichen Folge der Rückkehr in die alten Heimatgebiete. Je mehr Zeit verging, desto stärker wurde das zu einer gefährlichen Illusion.

epd: Wollten Sie mit der Denkschrift dieser Entwicklung entgegensteuern?

Weizsäcker: Die politische Behandlung der Folgen des schweren Vertriebenenschicksals hatte einen Tabucharakter angenommen. Das galt es, nicht länger hinzunehmen. Die Kammer trägt den Namen «öffentliche Verantwortung». Es ist die Substanz dessen, was dieser Name verlangt, sich solchen Fragen zuzuwenden. Als die Denkschrift, eine gesamtdeutsche Schrift, veröffentlicht wurde, gab es zunächst auch innerhalb der evangelischen Kirche, vor allem aber in der Öffentlichkeit Widerspruch und Protest. Trotz dieser großen Anfangsschwierigkeiten hat sich erstaunlich schnell in der Öffentlichkeit ein Verständnis für die Notwendigkeit des Inhalts der Denkschrift eingestellt. Auch die Debatte innerhalb der Kammer war von dieser Überzeugung geprägt.

epd: Die historische Entwicklung hat Ihnen Recht gegeben. Für wie gefestigt halten Sie heute das deutsch-polnische Verhältnis?

Weizsäcker: Es gibt immer noch ein ganz schönes Auf und Ab. Aber es geht mit Sicherheit voran - auf einem holprigen Weg in der richtigen Richtung. Die Bedeutung Polens innerhalb der EU wird wachsen. Das ist unser Interesse.

epd: In einer gemeinsamen Erklärung der EKD und des Polnischen Ökumenischen Rates heißt es, es gebe noch eine Reihe von Herausforderungen im deutsch-polnischen Verhältnis. An welchen Stellen ist der Weg denn Ihres Erachtens holprig?

Weizsäcker: Zum Beispiel in der Russlandpolitik. Welche Politik gegenüber Russland soll die Europäische Union im allgemeinen und die deutsche Regierung im Besonderen betreiben? Dann gibt es bilaterale Fragen. Welche Auswirkungen haben unterschiedliche Lohn- und Steuerniveaus und Wanderungsbewegungen? Offene Grenzen sind etwas Wunderbares, aber schaffen neue Probleme. Aber mit den Problemen werden wir schon fertig.

epd: Der Plan von Erika Steinbach, ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin zu errichten, hat jüngst auf polnischer Seite zu Verstimmungen geführt. Was halten Sie von diesem Plan?

Weizsäcker: Für mich ist die «Danziger Erklärung» vom damaligen Bundespräsidenten Rau und dem polnischen Präsidenten Kwasniewski von 2003 die Richtschnur, an die ich mich halte. Sie hatten sich darauf verständigt, die Geschichte von Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im Geist der Versöhnung neu zu bewerten.

epd: Spätere Denkschriften und Stellungnahmen der EKD haben solche Debatten wie bei der Ostdenkschrift nicht mehr ausgelöst. Worauf führen Sie das zurück? Ist die Kirche zu zahm geworden?

Weizsäcker: Das Hauptcharakteristikum der Ostdenkschrift war, dass ihr Thema von zentraler Bedeutung war. Nicht jede Denkschrift der Kammer ist von zentraler Bedeutung. Ich empfinde die Kammer für öffentliche Verantwortung nach wie vor als eine notwendige und gute Einrichtung. Sie steht aber heute nicht mehr vor einer solchen Herausforderung wie wir damals.