Rede beim Empfang der Stadt Hannover anläßlich des Kirchentags

Kirchentagspräsident Prof. Dr. Dr. Eckhard Nagel

25.05.2005


Es gilt das gesprochene Wort.

Verehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Herr Schmalstieg,  
verehrte Landesbischöfin, liebe Margot,  
liebe Hannoveranerinnen und Hannoveraner,  
liebe Niedersachsen,  
liebe Gäste des 30. Deutschen Evangelischen Kirchentages:  

heute ist ein besonderer Tag, ein Tag der Freude für die Kirchentagsfamilie, die eingeladen   und zu Gast ist in ihrer Heimat, in ihrer Wiege und Geburtsstätte. Es ist ein besonderer Moment, ein ergreifendes Gefühl, wenn man nach Hause kommt nach 22 Jahren. Dies kann man allenthalben spüren, auf den Straßen dieser Stadt und in den vergangenen Tagen besonders auch auf dem eindrucksvollen Expo- und Messegelände, wo viele tausend   ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich freudig gegenseitig begrüßt haben, sich in die Arme gefallen sind, gleich das Erzählen begannen über die zurückliegenden zwei Jahre, sich ihre Freude über das Wiedersehen enthusiastisch gezeigt haben.  

So stehe ich hier und freue mich im Namen des Präsidiums und der Präsidialversammlung unseres Kirchentages, freue mich im Namen unserer Mitarbeiter aus dem Zentralen Büro des Kirchentages in Fulda und der Geschäftsstelle hier in Hannover, freue mich im Namen von fast 50.000 Menschen, die als Mitwirkende auf diesen Kirchentag kommen, und bin sicher, dass die über 100.000 Dauerteilnehmer, die sich heute und in den nächsten Tagen in Hannover begegnen werden, ihrer eigenen Freude eindrucksvoll Nachdruck verleihen werden.

Hannover, die Wiege des Kirchentages. Am 31. Juli 1949 wurde an dieser Stelle die Gründung des Deutschen Evangelischen Kirchentages als „Einrichtung in Permanenz“ vom späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann proklamiert. Der Kirchentag war geprägt von Verunsicherung und stand, ganz im heutigen Sinne, im Zeichen des Fragens: „Wir selber müssen uns fragen, warum wir in der Vergangenheit unseren Christenstand nicht ernst genug genommen, unseren evangelischen Glauben nicht treu genug bekannt und innerhalb und außerhalb der Kirche nicht diejenige aktive Position eingenommen haben, zu der wir nach apostolischer Lehre berufen sind. Die Glieder der Kirche selber in allen Berufsständen tragen vor Gott und Menschen die Verantwortung, was in der Zukunft geistig und geistlich aus unserem Volke werden soll. Wenn das große Vakuum, das 1945 in der Seele des jungen Deutschen entstanden war und heute noch weiterhin besteht, nicht von christlichem Glauben ausgefüllt wird, dann ist gar nicht abzusehen, wohin die geistige und   dann schließlich auch die soziale und politische Entwicklung noch einmal führen könnte.“

Mehr als 55 Jahre später sind diese Befürchtungen des Kirchentagsgründers Reinold von Thadden-Trieglaff nicht wirklich überkommen. Sie stellen sich nur anders, und sie haben inzwischen eine andere Geschichte. Aber diese zentralen Fragen sind unabhängig von der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung, von der technologischen und strukturellen Prosperität – sie sind die zentralen Fragen für jedes einzelne Leben über die Gestaltung   seiner irdischen Existenz. Darum ist es kurzsichtig wenn man annimmt, unsere Losung   „Wenn dein Kind dich morgen fragt …“ aus dem 5. Buch Mose mit seinen zentralen Anfragen an Herkunft, konkretes Handeln und Zukunftsfähigkeit habe etwas Beliebiges.

„Kirche in Bewegung“ hieß es damals, von der Hinwendung zur Welt sprachen die Kirchentagsgründer. Die politische Verantwortung der Christen war ein zentrales Thema. Gottesdienste und Bibelarbeiten bildeten den Rahmen. So ist es auch heute. 

Selbst habe auch ich meinen ersten Kirchentag in Hannover erlebt. Das ist für einen Hannoveraner nicht ganz ungewöhnlich, und doch habe ich, mit sechs Jahren in Begleitung   meiner Eltern inmitten des Wirtschaftswunders, aber auch des Kalten Krieges unter den Vorzeichen einer sich immer deutlicher artikulierenden Studentenbewegung – ohne dass ich von irgendeinem der Themen etwas geahnt hätte –, meinen ersten Besuch im   Niedersachsenstadion, wie es damals noch hieß, zum Abschlussgottesdienst des Kirchentages 1967 in bleibender Erinnerung behalten. Die Menschen um mich herum, die offene und friedliche Atmosphäre bei so schwierigen Themen wie Hochrüstung am Eisernen Vorhang zwischen NATO und Warschauer Pakt, die kriegerischen Handlungen in Vietnam und die Frage der Wehrdienstverweigerung, des Friedensdienstes mit und ohne Waffen haben mich damals nicht besonders beeindruckt. 

1983, der Kirchentag der „lila Tücher“, der von einer Studentengeneration besonders geprägt war, zu der ich mich selber zähle, die sich auszeichnete durch selbst gestrickte Pullover – ich selbst habe es nie zu einem ganzen gebracht, aber mich in meinen Nachtdiensten im Krankenhaus als Pflegehelfer mit den Kolleginnen eifrig darum bemüht, mit langen Haaren übrigens, von denen ich in meiner Körperwahrnehmung heute doch nur als lange zurückliegend sprechen kann – in jenem Jahr 1983 also waren wir bewegt und der Überzeugung, nur eine Umkehr zum Leben könne die drohende Spaltung unserer Gesellschaft, die Spaltung eines Kontinents und die Spaltung dieser Welt überwinden. Dass jener 20. Deutsche Evangelische Kirchentag als fröhlich und ansteckend, als spirituell still und laut gleichzeitig charakterisiert wird, macht die Bandbreite und Lebendigkeit der sich bewegenden Kirche und ihrer Mitglieder deutlich. Die Menschen, die Hannoveranerinnen und Hannoveraner auch vor über 20 Jahren, haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Hoffnung auf Zukunft damals nicht in den kontroversen Diskussionen verloren ging, sondern   dass für alle, die da waren, im Gedächtnis blieb, dass die Begegnungen von Herz zu Herz, dass die Offenheit in unseren Augen, die Fähigkeit zu hören, die Bereitschaft, Mitmensch zu sein, keine leere Floskel, sondern eine lebbare, erfüllende Lebensweise sein kann. 

Die Sonne ist aufgegangen – und das selbstverständlich nicht nur den Kindern Christi, sondern allen Menschen, und wir hoffen, dass das Licht uns alle erwärmen und unsere Herzen durchfluten wird.   So sind die Erwartungen groß, die sich heute mit Tagen verbinden, die strukturiert sind durch 3.000 Einzelveranstaltungen, durch Themenhallen mit den Schwerpunkten Werte, Wirtschaft, Weltgemeinschaft oder Kultur, Bildung, Wissenschaft und mit dem Thema   Spiritualität. Erstmals wird es in dieser Stadt ein Kinderzentrum geben, das mit dazu beigetragen hat, dass sich mehr Kinder und Familien als je zuvor angemeldet haben. Wir erwarten 5.000 internationale Gäste von allen Kontinenten und aus über 90 Ländern, mit denen wir schon im Vorfeld in Loccum in kleinem Kreise die Bildung eines globales   Netzwerks vereinbart haben. Wir freuen uns auf die Lange Kirchentagsnacht von Sonnabend auf Sonntag, in der hoffentlich alle Hannoveranerinnen und Hannoveraner auf den Beinen sein werden – ist dies alles nicht ein wunderbares Ereignis, dass fast 50.000 freiwillige, ehrenamtliche Helferinnen und Helfer mit der Unterstützung einer kleinen professionellen Gruppe in Bewegung gesetzt haben?

Nun gibt der Kirchentag die Chance, gemeinsam innezuhalten, um Zeit zu finden, das vielleicht am meisten verloren gegangene Gut in den letzten 22 Jahren: Zeit zum Zuhören, Zeit für Fragen, Zeit für Gespräche über Hoffnungen und Sorgen, Zeit zum Handeln mit Phantasie und Mut, Zeit für Kreativität und Lebensfreude. Hannover gibt Zeit zum Aufbruch. Aufbruch bei der Suche nach hilfreichen Antworten, wenn dein Kind dich morgen fragt ...     

25. Mai 2005
Nachrichtenredaktion des Kirchentags