Sieben Fragen – sieben Antworten: ein unvollständiges Resumé des 30. Deutschen Evangelischen Kirchentages

Eckhard Nagel: Statement Abschlusspressekonferenz Kirchentag Hannover 2005

28. Mai 2005


 - Es gilt das gesprochene Wort -

Hunderttausende hat der Kirchentag in Bewegung gebracht. Von morgens bis abends und bis spät in die lange Nacht der Kirchen. Vier Tage Gottesdienste feiern, beten, singen, Gemeinschaft üben. Vier Tage Begegnung: reden, zuhören, streiten in gegenseitiger Achtung; eine neue Kultur des Fragens, eine neue Nachdenklichkeit. Vier Tage unter Sommersonne und dem Segen Gottes.

Wenn dein dich Kind morgen fragt – dann können wir sieben Antworten geben.

1) für den Einzelnen, 2) für unsere Familien, 3) für unsere Gemeinden, 4) für die Kirchentagsbewegung, 5) für die Kirche als Institution, 6) für unsere Gesellschaft, 7) für die Weltgemeinschaft.

1. Was bedeutet der Kirchentag für den Einzelnen? Hannover hat geleuchtet. Fast 400.000 Menschen sind miteinander verbunden gewesen, indem sie das Licht einander weitergegeben, miteinander gesungen und miteinander geschwiegen haben. Der Abend der Begegnung mit dem Lichtermeer am Leibnizufer hat ein prägnantes Bild geschaffen und dazu hat jeder Einzelne beigetragen. – Jeder und jede ist wichtig und kann und muss an seinem bzw. ihrem Ort beitragen zu dem großen Ganzen.

2. Was bedeutet der Kirchentag für die Familien? Familienpolitik steht – mindestens rhetorisch – ganz oben auf der Agenda von Politik und Kirche. Die so genannte demographische Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat uns an einen Punkt der Ratlosigkeit, ja der Depression geführt. Eine Gesellschaft ohne Kinder hat keine Zukunft. Das ist nicht einfach eine Frage der Rentenfinanzierung. Familien – in der vielfältigen Form, wie sie heute existieren – sind ein Ort, an dem eine Generationenübergreifende Verantwortung für das Gemeinsame und das Gemeinwesen eingeübt werden muss. Wir wissen, dass wir weit davon entfernt sind, schlüssige Antworten auf die komplexen Fragen geben zu können. Aber wir wissen auch, dass es traurig um unser Gemeinwesen bestellt sein wird, wenn die Losung einmal lauten würden: Stell Dir vor, es ist kein Kind mehr da, das dich morgen fragt.

3. Was bedeutet der Kirchentag für unsere Gemeinden? Bei diesem Kirchentag haben wir erstmals ein Kinderzentrum initiiert. Über 15.000 Kinder haben es täglich mit Eltern und Großeltern besucht. 2.500 Kinder waren mit ihren Eltern bei den morgendlichen Bibelarbeiten. „Erzähl mir was von deinem Glauben…“ Diese Frage unserer Kinder zeigt eindrücklich, dass wir Christen uns daran erinnern sollten, dass wir eine Erzählgemeinschaft sind. Dass wir im Erzählen der biblischen Geschichten uns und unsere Kinder über unsere Herkunft orientieren. Erst aus dieser Erinnerung gewinnen wir Kraft und Ziel für die Gestaltung der Zukunft. Dieser Kirchentag hat gezeigt: Kinder wollen hören, Kinder wollen lernen, Kinder sind begeisterungsfähig. Sie fragen nach dem Glauben, nach den Geboten, nach den Geschichten der Bibel. Das ist etwas, was wir in die Gemeinden weiter geben können. Wer hier spart, vertraut nicht auf die eigene Zukunft.

4. Was bedeutet dieser Kirchentag für die Kirchentagsbewegung? Der Kirchentag hat viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erfahren. Protestantismus wirkt wieder anziehend – Protestieren ist wieder „in“. Natürlich haben wir es nicht allen Recht machen können, aber das wollten wir auch nicht. 3.000 Veranstaltungen haben aber gezeigt, dass wir in der großen Themenvielfalt die brennenden Themen unserer Kirchen und Gesellschaft angesprochen haben. Es hat sich gezeigt: Christinnen und Christen bieten ein nahezu unerschöpfliches Potenzial an Kreativität für die Kirche einerseits und für die Zivilgesellschaft andererseits. Wir sind wieder politischer, weil wir das Engagement für die eine Weltgemeinschaft betonen. Wir beleben die internationale Ökumene. Das Global Network des Kirchentages erweitert mit 5.000 ausländischen Gästen aus allen Kontinenten und fast 90 Nationen unseren eigenen Blickwinkel. Wir sind aufgebrochen zu einer Kirchentagsbewegung im internationalen Rahmen. Als größte christliche Laienbewegung der Welt wollen wir eine wichtige Kraft sein und dem Nord-Süd-Dialog in Zukunft verstärkt eine Plattform bieten.

5. Was bedeutet der Kirchentag für die Kirche als Institution? Der Kirchentag wird viele Impulse in die Gemeinden geben. Er wird auch viel von der Be-Geist-erung und der Kreativität, die hier auf dem Kirchentag zu besichtigen war, in den kirchlichen Alltag vermitteln. Er will gegen die häufig lähmenden Spar- und Strukturdebatten ein Signal des Aufbruchs und der Hoffnung setzen. Die Bereitschaft zu Phantasie und neuen Wegen ist Ausdruck unserer Zukunftsfähigkeit und unseres Zutrauens in die Führung Gottes. Dieser Kirchentag hat das Thema Ökumene für uns Laien wieder ein Stück vorangebracht. Es gibt keine Alternative zur Einheit der Kirchen in ihrer großen Vielfalt.
Der Weg dorthin wird noch viel Arbeit machen, aber diese Arbeit lohnt sich. Die Worte des neuen Papstes Benedikt XVI. sind uns hierbei eine große Ermutigung: dies ist dochein besonderes  Zeichen der ökumenischen Gesinnung der Kinder der Reformation.  Unsere Hoffnung auf Gastfreundschaft bei der Abendmahlsfeier ist ungebrochen – das wäre eine freundliche Geste und eine gute Wegzehrung auf dem Weg zum Ökumenischen Kirchentag 2010 in München und zur Einheit der Kirchen.

6. Was bedeutet der Kirchentag für unsere Gesellschaft? Die Kirche ist als eine Kraft in der Zivilgesellschaft deutlicher geworden. Kirchentag bleibt Kirchentag. Politik bleibt Politik. Kirche bleibt Kirche, und sie verflüchtigt sich nicht im großen Ganzen einer irgendwie moralisch gestimmten Gemeinschaft. Und sie ist zugleich stärker in der Gesellschaft verankert als bisher wahrnehmbar. Der Kirchentag in Hannover hat sich wieder einmal als ein unverzichtbarer Transmissionsriemen zwischen verfasster Kirche, den Gemeinden, dem Protestantismus und allen religiös Interessierten erwiesen.

7. Was bedeutet der Kirchentag für unsere Weltgemeinschaft? Die Diskussionen und Erfahrungen hier in Hannover haben uns deutlich gezeigt, dass das religiöse und spirituelle Bewusstsein der Gesellschaften den Prozess der Gestaltung der Weltgesellschaft mitbestimmt, ja mitbestimmen muss. Globalisierung ist kein Schicksal, sondern ein von Menschen gemachter Prozess, der auch von Menschen gestaltet werden muss. So wollen wir von unserem christlichen Verständnis von Gerechtigkeit her die wirtschaftlichen Organisationsprozesse mitgestalten. Und wir wollen dabei offen sein für die moralischen Einsichten nicht-religiöser, humanistischer Traditionen und die Weisheit anderer Religionen. Uns ist bewusst, dass wir im Rahmen dieses Prozesses, eine Weltgesellschaft mit menschlichem Antlitz zu schaffen, keine unfehlbaren, endgütigen und einseitigen Antworten geben können. Wir praktizieren lieber eine neue Nachdenklichkeit.