Grußwort beim Empfang des Niedersächsischen Ministerpräsidenten

Wolfgang Huber

27. Mai 2005


Es gilt das gesprochene Wort!

Auch für ein kirchentagserfahrenes Land und auch für eine kirchentagserfahrene Stadt bleibt es etwas Besonderes: der Deutsche Evangelische Kirchentag. Aber für uns als Gäste ist es gut zu wissen: Wir sind in einer kirchentagserfahrenen Stadt und in einem kirchentagserfahrenen Land.

Ich sage das in persönlicher Dankbarkeit: Mein erster Kirchentag war Hannover 1967, der zweite Kirchentag in dieser Stadt. Ich sage es für den deutschen Protestantismus. Wir sind dankbar dafür, dass es den Deutschen Evangelischen Kirchentag gibt, jetzt zum dreißigsten Mal. Und wir sind dankbar dafür, dass er in Hannover eine besondere Heimat hat. In keiner Stadt war er häufiger als hier.

Wir wissen im Übrigen: In ganz Deutschland gab es noch nie einen vergleichbar kirchentagserfahrenen Oberbürgermeister wie Herbert Schmalstieg. Bei drei Kirchentagen, die es je in Hannover gab, war er dabei, 2 mal davon als Oberbürgermeister.

Wir wissen auch: Für Ministerpräsident Christian Wulff ist der ökumenische Impuls, wie er vom Ökumenischen Kirchentag in Berlin vor zwei Jahren ausging, ein persönliches Anliegen. Dafür sind wir dankbar. Inzwischen wissen wir, dass der nächste Ökumenische Kirchentag nach sieben Jahren stattfinden soll, also im Jahr 2010. Wenn damit eine Serie begründet würde, fände übrigens der dritte Ökumenische Kirchentag im Jahr 2017 statt, im fünfhundertsten Jubiläumsjahr der Reformation. Das wäre geradezu eine List der Vernunft.

Und wir wissen schließlich: Für die hannoversche Landesbischöfin, für Margot Käßmann, war der Übergang vom Kirchentag zur verfassten Kirche kein Wechsel der Seiten, sondern ein Bleiben bei derselben Aufgabe: Kirche in Bewegung. So hieß übrigens die Losung des ersten Evangelischen Kirchentags überhaupt: in Hannover 1949.

Ja, das ist der Kirchentag: Kirche in Bewegung. Bis zum heutigen Tag behält er etwas von Martin Luthers „fahrendem Platzregen“; seiner eindrücklichen Gewalt kann sich niemand entziehen. Seine fruchtbaren Wirkungen lassen sich nur schwer messen. Über die Veränderungen, die er bewirkt, gibt es keine Statistik.
Aber für die Wechselwirkung zwischen Kirchentag und Kirche gibt es inzwischen ein paar verlässliche Indikatoren. Von einer Landesbischöfin begrüßt, die zuvor Generalsekretärin des Kirchentags war, von einer Generalsekretärin angeleitet, die in zwei Wochen Pröpstin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz sein wird, habe ich im Blick auf das Verhältnis zwischen Kirchentag und Kirche ein ganz gutes Gefühl. Für mich selbst hat dieser Kirchentag sogar eine gewisse Jubiläumsqualität. Das Datum des Kirchentags in Düsseldorf, bei dem ich Präsident sein durfte, jährt sich in diesen Tagen zum zwanzigsten Mal. Ich feiere dieses Jubiläum gern hier in Hannover.

Meinen herzlichen Dank an die Gastgeber verbinde ich mit einem herzlichen Glückwunsch an die Verantwortlichen. "Wenn dein Kind dich morgen fragt ..." Die Losung ist von einer verblüffenden Aktualität. Sie trifft in eine Situation, in der neu nach Glauben und Religion gefragt wird. Mit erstaunlicher Kühnheit bewährt sie sich in einer Zeit, in der ein neuer Hunger nach Glaubenswissen wie nach gefeierter Religiosität zu spüren ist. Jede und jeden von uns stellt sie vor die Frage: Was wird das Kind denn fragen? Werde ich eine Antwort wissen? Wird die Frage mich in Verlegenheit bringen?

Traditionsabbruch und neue Sinnsuche bestimmen unsere Zeit. Dass nichts mehr selbstverständlich ist, gehört genauso zu unseren Erfahrungen wie die Überzeugung, dass tragfähige Grundlagen für das persönliche wie für das gemeinsame Leben neu gefunden und gefestigt werden müssen. Wir bekräftigen das Ja zum pluralen Charakter unserer Gesellschaft. Aber wir wissen zugleich, dass man Pluralität nicht mit Beliebigkeit meistern kann. Deshalb wird neu nach Verbindlichkeit gesucht und gefragt: „Wenn dein Kind dich morgen fragt.“

Heute erleben wir, wie das Glaubenswissen im Lauf weniger Generationen abhanden kommt, wenn es nicht öffentlich und privat gepflegt wird. In einer solchen Situation können wir nicht einfach darauf warten, dass „unser Kind uns fragt“. Die entscheidende Herausforderung an uns heißt: Leben wir selbst so, dass unsere Kinder uns nach unserem Glauben fragen? Tragen wir selbst dazu bei, dass die Frage nach Gott noch am Horizont des alltäglichen Lebens aufscheint?

In der Hebräischen Bibel wird auf diese Frage mit einer Befreiungsgeschichte geantwortet. Diese Befreiungsgeschichte wird als Glaubensgeschichte erzählt.

Befreiungsgeschichten haben wir heute auch zu erzählen – in Europa und in Deutschland zumal. Aber wir wagen es nicht, sie als Glaubensgeschichten zu erzählen. Die gequälte Debatte über die Präambel der Europäischen Verfassung ist das jüngste Beispiel dafür. Da war das Land Niedersachsen mutiger, als es der Verantwortung vor Gott sogar nachträglich Verfassungsrang gab.

Dieser vierte Kirchentag in Hannover fordert uns dazu auf, dass wir der nächsten Generation von der Freiheit des Glaubens erzählen, von der Einsicht, dass unser Leben ein Geschenk und eine kostbare Gabe darstellt, mit der wir verantwortlich umgehen sollen. Erzählt werden soll von der Möglichkeit, die Kräfte, die uns anvertraut sind, auch so einzusetzen, dass sie in der Verantwortung für andere Gestalt gewinnen. Daran schließen sich natürlich gesellschaftliche und politische Konsequenzen an. Aber Hannover 2005 stellt das Glaubensthema ins Zentrum – in bemerkenswertem Mut.

Lassen Sie mich noch einen Akzent hervorheben. Die Losung des Kirchentages weist darauf hin, dass es Leben immer nur im Zusammenhang der Generationen gibt. Wenn wir uns darauf einlassen, welche Fragen Kinder an uns stellen, müssen wir fragen, wie es um eine Zukunft mit Kindern bei uns bestellt ist.

Was tragen wir in unserem Umfeld dazu bei, dass Kinder in die Mitte gestellt und junge Paare darin bestärkt werden, Kindern Raum zu geben? Mit der Ankündigung, verbesserte Betreuungsangebote würden das schon alles richten, wird sich auf diesem Kirchentag niemand abfinden – so nötig bessere Betreuungsangebote sind. Aber solche politischen Vorschläge und Forderungen müssen sich mit der Bereitschaft zu einem Mentalitätswechsel in unserer Gesellschaft verbinden. Darin sehe ich die dringlichste Aufgabe. Kirchentagsgemäß ist diese Aufgabe auch.
 
Mein Wunsch ist, dass der Kirchentag einen Schub für die Glaubenscourage gibt, die unserer Gesellschaft gut tut. So richtig es ist, dass Glaube immer persönlich ist, so wichtig ist es auch, dass er nicht einfach privat bleibt. Glaube gehört in die Öffentlichkeit. Er ist darauf angelegt, sich einzumischen in die Debatte darüber, wie wir leben wollen. Ich wünsche mir, dass der Kirchentag dazu anstiftet, im Alltag, der auch auf die Tage in Hannover mit ihrer besonderen und unvergleichlichen Atmosphäre wieder folgen wird, Glaubensmut und Zivilcourage zu praktizieren. Ich hoffe, dass dieser Kirchentag viele Menschen in dieser Stadt, in diesem Land und weit darüber hinaus erreicht und sie in ihrem Glauben ermutigt.

27. Mai 2005