"Stärker materialistisch verstrickt als andere Länder"

EKD-Ratsvorsitzender im Interview mit Spiegel-Online

10. Mai 2005


Deutschland gehen die Kinder aus. Der Ratsvorsitzenden der EKD, Bischof Wolfgang Huber, führt das auf eine zu sehr am Materialismus orientierte Gesellschaft zurück. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview spricht er über Gründe der Zukunftsunsicherheit und darüber wie Beziehungsfähigkeit verbessert werden kann.

SPIEGEL ONLINE: Herr Bischof Huber, der Wunsch der Deutschen, im Alter zwischen 20 und 39, Kinder zu bekommen, lässt drastisch nach. Woran liegt es, dass sich immer mehr Menschen gegen den Nachwuchs entscheiden?

Huber: Mir leuchtet vor allem folgende Erklärung ein: Menschen zwischen 20 und 39 geraten in einen Lebensstau, wie der Bildungsforscher Paul Baltes das genannt hat. Sie müssen vieles gleichzeitig verwirklichen: Ausbildung, Beruf, Karriere, Partnerschaft. Dies hat bei ihnen Vorrang. Familie wird von vielen Jugendlichen zwar sehr positiv bewertet, doch im härter werdenden Konkurrenzkampf um einen Platz in der Gesellschaft tritt die Frage nach Kindern in den Hintergrund. Ich halte das für ein großes Unglück.

SPIEGEL ONLINE: Kinderlosigkeit - ein Zeichen allgemeiner Überforderung?

Huber: Überforderung ist das eine, Zukunftsunsicherheit das andere. Quer durch die Generationen schwindet die Zukunftsgewissheit.

SPIEGEL ONLINE: Woran liegt's?

Huber: Wir sind eine Gesellschaft, die sich daran gewöhnt hat, diese Zukunftsgewissheit aus materiellem Wohlstand und dessen Steigerung abzuleiten. Stillstand gilt bei uns schon als Katastrophe. Dass die Zukunftsgewissheit auch innere Gründe braucht, ist in Vergessenheit geraten.

SPIEGEL ONLINE: Welche inneren Gründe meinen Sie?

Huber: Sie bestehen darin, dass der Mensch weiß, er ist mehr, als er selbst aus sich macht. Dass er eine Würde hat, die ihm auch in schwierigen Situationen nicht genommen werden kann. Und dass derjenige, der auf Gott vertraut, auch mit mehr Zuversicht in die Zukunft gehen kann. Wir müssen Menschen wieder klar machen: Der aufrechte Gang und der klare Blick messen sich nicht nur am Portemonnaie, so wichtig materielle Sicherheit ist.

SPIEGEL ONLINE: Weshalb fehlt es am Bewusstsein für die immaterielle Sicht der Dinge?

Huber: Weil Individualismus und Säkularismus weit fortgeschritten sind. Den Menschen wurde eingeredet, ihre Freiheit verwirklichten sie dann am besten, wenn sie nur für sich selber sorgen und möglichst viel vom Leben haben. Jetzt merken sie, dass Freiheit und Verantwortung zusammengehören, weil keiner für sich allein lebt. Gleichzeitig dachte man, dass diese Gesellschaft immer säkularer wird, immer weniger auf Glaubensvoraussetzungen angewiesen ist, immer weniger eine Hoffnung braucht, die über die Verbesserung materieller Bedingungen hinausreicht. Das war ein Irrtum ...

SPIEGEL ONLINE: ... gegen den sich viele Menschen nach dem Tod Johannes Pauls II. gewandt haben?

Huber: In der Anteilnahme am Tod Johannes Pauls II. und an der Wahl Benedikts XVI. drückt sich die Einsicht aus, dass wir fürs Leben mehr brauchen als eigenes Tätigsein und dessen Erfolg. Eine innere Beteiligung und öffentliche Aufmerksamkeit in diesem Ausmaß hat es noch nie gegeben. Ich deute das als ein Signal dafür, dass sich in der persönlichen Haltung zu Fragen von Religion und Glaube auch im öffentlichen Bewusstsein etwas verändert.

SPIEGEL ONLINE: Ist die katholische Kirche im Vergleich zur protestantischen kinderfreundlicher? Sie missbilligt Kondom und Pille und verkündet den Gläubigen eine Gott gewollte Naturordnung mit dem Ziel der Kinderzeugung verkündet.

Huber: Dies halte ich nicht für den richtigen Weg, etwas gegen Kinderlosigkeit zu tun. Denn verantwortete Elternschaft und verantworteter Umgang mit menschlicher Sexualität schließen auch geeignete Methoden der Empfängnisverhütung und der Vorbeugung gegen Aids ein. Ich meine daher, die katholische Lehre muss sich auf diesem Feld stärker der verantwortlichen Praxis vieler katholischer Christen annähern.

SPIEGEL ONLINE: Im Unterschied zur katholischen Kirche hat die protestantische seit Luther die Verantwortung des Einzelnen vor Gott betont. Hat sie damit zur Individualisierung beigetragen, mit deren Folgen wir jetzt konfrontiert sind?

Huber: Die Betonung des Individuums ist auch heute notwendig wegen der unantastbaren Würde der einzelnen Person. Damit einher geht aber auch die Verantwortung der einzelnen Person. Genau das muss der Protestantismus in die jetzige Diskussion einbringen: Individualismus als bloßes In-Anspruch-Nehmen, nicht aber auch als In-Anspruch-Genommen-Sein sitzt einem falschen Freiheitsbegriff auf.

SPIEGEL ONLINE: Vor allem beim "In-Anspruch-Genommen-Sein" scheint es zu hapern. Als Hauptgrund für die Ablehnung von Kindern führen 83 Prozent der Befragten an, es fehle ein geeigneter Partner. 27 Prozent leben in einer unbefriedigenden Partnerschaft. Wie kann man die Beziehungsfähigkeit verbessern?

Huber: Man muss deutlich machen, dass Partnerschaften nicht nur als Verabredungen oder gar als Verträge zum eigenen Nutzen angesehen werden, sondern als Lebensgemeinschaften, in denen man wirklich miteinander etwas Neues will. Es hat bei vielen die zu starke Tendenz gegeben, sich den Partner nach den eigenen Vorstellungen zu malen und die Beziehung zu beenden, sobald diese Bedingungen nicht erfüllt sind. Die evangelische Kirche hat hier auch deshalb manches versäumt, weil wir die Verantwortung für Kinder nicht nachdrücklich genug angesprochen haben.

SPIEGEL ONLINE: Warum ist das Problem in Deutschland brisanter als in anderen Industrienationen?

Huber: Weil wir uns, durch das Wirtschaftswunder verursacht, stärker in ein materialistisches Denken verstrickt haben als andere Länder. Und weil wir lange Zeit überhaupt nicht darauf geachtet haben, dass für eine Zukunft mit Kindern etwas getan werden muss. Vom alten Adenauer stammt der Satz: "Kinder werden sowieso geboren." Daraus wurde ein Programm der Gleichgültigkeit.

SPIEGEL ONLINE: Kann man den Wunsch nach Kindern wirksam verstärken, indem die Politik mehr Kinderkrippen und -tagesstätten einrichtet, mehr Kindergeld zahlt und bessere Ausbildungsplätze anbietet?

Huber: Das ist wichtig, genügt aber nicht. In den östlichen Bundesländern etwa haben wir die höchste Betreuungsrate für Kinder unter drei Jahren, aber gleichzeitig auch die niedrigste Geburtenrate. Bessere Betreuung ist eine gute Rahmenbedingung - doch die Betreuungsbereitschaft der Eltern muss hinzukommen. Diejenigen Mütter - und hoffentlich auch in vermehrtem Umfang diejenigen Väter -, die für einige Jahre aus dem Beruf gehen, um für ihre Kinder da zu sein, müssen unterstützt werden.

SPIEGEL ONLINE: Die Realität sieht oft anders aus: Wer lange pausiert, ist weg vom Fenster.

Huber: Hier ist die Wirtschaft gefordert. Sie sollte Erziehungspausen nicht als einen Verlust an beruflicher Kompetenz darstellen, sondern die Chance sehen, dass der Erfahrungsgewinn von pausierenden Eltern auch ihrer beruflichen Tätigkeit zugute kommen wird. Das wäre ein wichtiger Schritt dahin, Kinder bewusster ins Zentrum zu stellen und die Verantwortung der Eltern für ihre Kinder auch gesellschaftlich zu respektieren.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie konkrete Forderungen an die Wirtschaft?

Huber: Es bedarf einer besseren Planbarkeit von Berufskarrieren nach einer Unterbrechung von beispielsweise drei Jahren. Betriebsnahe oder in den Betrieb integrierte Kindergärten genügen nicht. Man muss Eltern auch eine langfristige Perspektive bieten, sollten sie sich für eine längere Babypause entscheiden, damit sie sich nicht jeden Tag fragen müssen, ob sie wieder gut in ihren Beruf hineinkommen.

SPIEGEL ONLINE: Für viele Menschen steht Familie schlichtweg nicht mehr auf der Tagesordnung ihrer Lebensplanung. Gibt es heute zu viele andere Sinn stiftende Möglichkeiten, das Leben zu verbringen?

Huber: Wir haben kein Überangebot an Sinn stiftenden Lebensmöglichkeiten. Wir haben eine Pluralität, in der sich Menschen auch sehr leicht verlieren. Sinn entsteht ja dadurch, dass sich ein Mensch seiner Mitte gewiss ist, dass er ein organisierendes Prinzip seines Lebens hat, dass er über eine Grundrichtung verfügt, in der er sein Leben führen will. Das ist schwieriger geworden. Viele Biografien weisen einen Patchwork-Charakter auf. So kann es nicht bleiben.

SPIEGEL ONLINE: Wenn sich jedoch die oft beschworene Keimzelle der Gesellschaft immer seltener ausbilden wird, wenn stattdessen ein Sammelsurium von Monaden, von Einzelheiten, die neue Zeit bestimmen wird, ist da der Kampf für die Familie nicht bereits verloren?

Huber: Nein, vor allem dann nicht, wenn die Familie eine andere Gestalt hat als gestern. Die Frauenrolle, die im Familienbild von gestern vorherrschend war, will ich gar nicht mehr haben. Die Pädagogik, die Ordnung vor Verantwortung und Gehorsam vor Freiheit gestellt hat, will ich keineswegs erneuern. Es gibt viele Beispiele, in denen sich Frauen und Männer die Familienarbeit fair teilen, in denen Eltern ihren Kindern Freiheit und Selbstbestimmung ermöglichen, indem sie gerade auch Grenzen und Verantwortung einüben.

SPIEGEL ONLINE: Fehlt etwas zum Menschsein, wenn die Elternschaft ausbleibt?

Huber: Es gibt natürlich auch sinnvolles Leben ohne Elternschaft. Aber das Leben mit Kindern gehört zu den größten Glückserfahrungen, die ein Mensch haben kann. Deshalb muss es darum gehen, dass ein Kinderwunsch sich mit biografischen Bedingungen und persönlichen Einstellungen verbindet, in denen Elternschaft möglich ist.

Das Interview führte Alexander Schwabe

Quelle: Spiegel-Online vom 10. Mai 2005