Dietrich Bonhoeffer in London

Martin Hüneke

25. April 2005


Ich möchte Ihnen von einem Abschnitt der Lebensgeschichte Dietrich Bonhoeffers erzählen, den ich nicht miterlebt habe, den aber nachträglich mein Lebensweg berührt hat: Während meines Auslandspfarramtes in London war ich in der gleichen Gemeinde tätig, in der Bonhoeffer drei Jahrzehnte vorher Pfarrer gewesen war. Ich habe mehrere Menschen kennengelernt, die sich noch gut an ihn erinnerten und von ihm erzählen konnten. Alle stimmten darin überein, daß Bonhoeffer ein außergewöhnlicher Mensch mit einer sehr großen Ausstrahlung gewesen ist. Einem dieser Gemeindeglieder, Herrn Lorenz (der Cello spielte), gehörte ein Flügel, auf dem Bonhoeffer öfter gespielt hat, auch mit anderen zusammen, z. B. Klaviertrios. Wir konnten den Flügel kaufen; er steht heute in unserem Haus und meine Frau spielt darauf.

Dietrich Bonhoeffer hat von 1933 bis 1935 in London gelebt und als Pfarrer gearbeitet. Das klingt, als habe es sich um zwei bis drei Jahre gehandelt; es waren aber nur etwas mehr als 11/2 Jahre: Vom Oktober 1933 bis zum April 1935. Was veranlaßte ihn, nach London zu gehen? Ich denke, es war eine Flucht vor der widerwärtigen Wirklichkeit des Jahres 1933, so etwas wie ein selbstauferlegtes Exil, diese Auslandspfarrstelle zu übernehmen. Die Gründe waren folgende:

Am 30. Januar war Hitler in Deutschland Reichskanzler geworden, und in der Bonhoefferschen Familie hatte man sofort gesagt: Hitler bedeutet Krieg. Zwei Tage später, am 1. Februar 1933, als nur wenige in Deutschland sich der Führerbegeisterung entziehen konnten, sprach Bonhoeffer in einem Rundfunkvortrag über das Thema »Wandlungen des Führerbegriffs in der jungen Generation«; dies war nicht speziell auf Hitler bezogen, sondern ganz allgemein verstanden. Bonhoeffer warnte davor, daß der Führer zum Idol gemacht würde. "Führer und Amt, die sich selbst vergotten, spotten Gottes."(1)Warum der Vortrag vorzeitig durch die Sendeleitung abgeschaltet wurde, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. -

Im April 1933 (!) hielt Bonhoeffer einen Vortrag vor der Berliner Pfarrerschaft mit dem Titel "Die Kirche vor der Judenfrage"; dieser Vortrag ist für uns heute zwar in manchen seiner Gedankengänge recht befremdlich, nicht nur weil er noch weitgehend geprägt ist von dem traditionellen Denken der Kirche über die Juden und die Judenmission, sondern auch weil er dem Staat ein sehr großes Recht einräumt. Trotzdem kommt Bonhoeffer zu ganz klaren Schlüssen:

Erstens, es ist "kirchlich unmöglich, den Teil der Gemeinde, der der jüdischen Rasse zugehört, aus der Gemeinde auszuschließen." Damit widersprach er dem Vorschlag, eigene "judenchristliche" Gemeinden zu gründen, damit Arier nicht mehr mit Nichtariern in derselben Kirchenbank sitzen müßten. - Zweitens sagte Bonhoeffer: "Die Kirche ist den Opfern jeder Gesellschaftsordnung in unbedingter Weise verpflichtet, auch wenn sie nicht der christlichen Gemeinde zugehören." Das war ein klares Bekenntnis zur Hilfe für die Juden, ob sie nun dem Glauben ihrer Väter anhingen oder Christen oder Nichtgläubige waren. - Drittens: Die Kirche hat "nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen", dann nämlich, wenn sie feststellt, daß der Staat durch Überschreiten seiner Kompetenzen sich selbst in Frage stellt. Hiermit ging Bonhoeffer weit über die gängige kirchliche Stellungnahme hinaus und nahm für die Kirche in Anspruch, daß sie Widerstand zu leisten habe, wenn das vom Gewissen her geboten ist. Dabei war ihm klar, daß nicht das Gewissen eines einzelnen Christen entscheidend sein kann. Hier taucht bei ihm zum ersten Mal der Gedanke auf, daß ein evangelisches Konzil in solchen Fällen eine Entscheidung treffen müsse. Wir werden auf diesen Gedanken später noch zu sprechen kommen. - Aber solche kritischen Stimmen gingen damals unter; so genaue Unterscheidungen wurden in der allgemeinen Aufbruchsstimmung nicht gemacht. Sie wurden auch in der Bekennenden Kirche nur von wenigen gehört.

Die kirchenpolitische Wirklichkeit sah ganz anders aus: Freiwillig, ohne dazu vom Staat auch nur aufgefordert zu sein, führte die evangelische Kirche für ihre eigenen Pfarrer den »Arierparagraphen« ein - eine heute kaum noch begreifliche Entscheidung. Danach konnte niemand Pfarrer in der evangelischen Kirche werden, der jüdischer Herkunft war. Alle Proteste Bonhoeffers gegen diesen Weg seiner Kirche waren vergeblich.

Im Sommer 1933 beteiligte sich Bonhoeffer an der Abfassung des "Betheler Bekenntnisses". Dieser Entwurf für ein erstes Glaubensbekenntnis der oppositionellen Christen, an dem er zusammen mit Hermann Sasse und anderen gearbeitet hatte, wurde im Verlauf der weiteren Bearbeitung jedoch so weit verwässert, daß er der endgültigen Fassung nicht mehr zustimmen konnte. Es hatte seine Klarheit und Eindeutigkeit verloren. Unter anderem war das, was dort über das Verhältnis der Kirche zu den Juden gesagt werden sollte, herausredigiert worden.

In seinen entschiedenen Stellungnahmen zu den Entwicklungen in Kirche und Politik sah Bonhoeffer sich von fast allen Gleichgesinnten allein gelassen. Zusammen mit seinem Freund Franz Hildebrandt, einem jungen Theologen jüdischer Herkunft, erwog er den Gedanken, aus dieser von nazi-freundlichen Gruppen beherrschten Kirche auszutreten und eine bekenntnistreue Kirche zu gründen.

Das Angebot, die Pfarrstelle in Forest Hill und in der St. Paulsgemeinde in London zu übernehmen, muß ihm da als ein willkommener Ausweg erschienen sein. Er konnte sich aus einer für ihn fast aussichtslos gewordenen Situation zurückziehen, konnte Abstand gewinnen, und er konnte gleichzeitig erstmals das tun, wozu er sich berufen wußte: Pfarrer in einer Ortsgemeinde sein. Mitten aus den Wirren des Kirchenkampfes heraus reiste er Ende Juli 1933 nach London und stellte sich in Gottesdiensten in Forest Hill und St. Paul den dortigen deutschen Auslandsgemeinden vor, die einen neuen Pfarrer suchten. Trotz seines jugendlichen Alters - er war gerade 27 Jahre alt - wurde Bonhoeffer gewählt. Die Gemeindevorstände drängten ihn, die Wahl auch anzunehmen. Dazu konnte sich Bonhoeffer aber nicht sofort entschließen. Zwei Herausforderungen warteten noch auf ihn: Die Teilnahme an der Konferenz des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen in Sofia im September 1933 und die Nationalsynode der Deutschen Evangelischen Kirche in Wittenberg. Bei der ersteren konnte er einen gewissen Erfolg erzielen: Der Weltbund verabschiedete eine Resolution gegen die Diskriminierung der Juden in Deutschland allgemein und gegen die Übernahme des staatlichen Arierparagraphen in der Kirche im besonderen. Bei der Nationalsynode in Wittenberg versuchten Bonhoeffer und einige Freunde durch eine Flugblattaktion Einfluß zu nehmen, doch vergeblich: Der Arierparagraph wurde nicht zurückgenommen, und Ludwig Müller wurde zum Reichsbischof gewählt. Franz Hildebrandt bemerkte dazu, nun glaube er an die Lehre von der »Realrotation« der Gebeine Luthers in der Schloßkirche.(2)

All diese Aktivitäten waren dem Kirchlichen Außenamt nicht verborgen geblieben. Bischof Heckel zweifelte nun daran, daß Bonhoeffer für eine verantwortungsvolle Aufgabe im Ausland geeignet sei, und versuchte, von ihm eine Loyalitätserklärung zu bekommen. Kompromisse wollte Bonhoeffer aber keinesfalls eingehen; dann würde er nicht nach London gehen, ließ er unzweideutig wissen. Nach einem Gespräch mit dem Reichsbischof ließ er zu den Akten nehmen, daß er sachlich absolut freie Hand habe und sich keinesfalls als Beauftragten einer deutschchristlichen Kirche aufzufassen habe.

In London bekam Bonhoeffer im Oktober 1933 als Pfarrer von zwei Gemeinden, einer unierten und einer reformierten, eine Menge Arbeit. Vor allem die allsonntägliche Predigt machte ihm viel Mühe. Dabei mußte er sich auch auf eine ganz andere Hörerschaft einstellen, als er sie von Berlin gewohnt war: Während er dort in erster Linie mit akademisch gebildeten Predigthörern rechnen konnte, waren es in den Londoner Gemeinden Geschäftsleute und Handwerker, die ihm zuhören sollten. Es ist nicht verwunderlich, daß manchen Gemeindegliedern die Predigten Bonhoeffers zu schwer waren. Ich glaube aber, man kann seine Bemühungen deutlich erkennen, eine bildhafte und auch für Laien verständliche Sprache zu entwickeln, ohne dabei an seinem theologischen Anspruch irgendwelche Abstriche zu machen. Sechzehn der Londoner Predigten sind uns erhalten; es wäre gewiß lehrreich zu sehen, wie der Stil der Predigten sich von 1933 bis 1935 verändert hat.

Bonhoeffer hat seine Arbeit als Pfarrer auch auf den anderen Gebieten ernst genommen. Er erteilte Konfirmandenunterricht, wenn auch mit sehr wenigen Konfirmanden. Es gibt ein Bild von der Konfirmation im Jahr 1935; da sieht man Bonhoeffer mit einem Geschwisterpaar, das gerade konfirmiert war. Fast fragt man sich ob des jugendlichen Aussehens des Pfarrers, wer hier Pfarrer und wer Konfirmand ist.

Durch Einführung eines Kindergottesdienstes und durch Einüben eines Krippenspiels für Weihnachten suchte Bonhoeffer das Gemeindeleben zu intensivieren. Auch machte er viele Besuche und ließ sich über die Gründe der Emigration aus Deutschland und über die Lebensgewohnheiten in England erzählen. Ebenso waren Amtshandlungen zu halten und Sitzungen zu leiten und zu protokollieren. Der aus Deutschland allmählich einsetzende Zustrom von politischen Flüchtlingen stellte den Pfarrer und seine Gemeinde vor neue, bisher unbekannte Aufgaben. Bonhoeffer erhielt hier tatkräftige und selbstlose Unterstützung von einigen Mitgliedern der Kirchenvorstände, die immer wieder Flüchtlingsfamilien in ihre Häuser aufnahmen und ihnen von dort aus halfen, eine eigene Behausung zu finden. In einem dieser gastlichen Häuser nahe der Kirche in Forest Hill, das von der Gemeinde später als Pfarrhaus gekauft wurde, habe ich als Pfarrer dieser Gemeinde mit meiner Familie neun Jahre gelebt.

Bonhoeffer war kaum in London angekommen, als er planmäßig begann, seine ökumenischen Kontakte auszubauen, die ihm jetzt wichtiger schienen als je. In dem Bischof von Chichester, George Bell, gewann er einen bedeutenden Ökumeniker zum Freund. Der Bischof lud den jungen ausländischen Pfarrer mehrfach in sein Haus in Chichester ein und ließ sich von ihm über die Lage der Kirche in Deutschland berichten. Er schätzte Bonhoeffers analytischen Verstand, die Klarheit seines Urteils und seine engagierte Haltung, so daß Bonhoeffer zu seinem wichtigsten Berater in allen Fragen wurde, die Deutschland betrafen. Später, im Jahr 1938, als Bonhoeffer längst wieder in Deutschland war, übernahm diese Rolle Bonhoeffers Schwager Gerhard Leibholz, der als nicht-arischer Jurist in Deutschland Berufsverbot bekam und mit seiner Familie fliehen mußte. Als er nach dem Krieg nach Deutschland zurückkehrte, wurde er Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Bonhoeffer versuchte in London natürlich, über die politische und kirchliche Entwicklung in Deutschland weiterhin aus erster Hand informiert zu bleiben. Seine ausgedehnte Briefkorrespondenz zeugt davon ebenso wie die zahlreichen Telefongespräche nach Deutschland, die er mit seinen Eltern, Verwandten und den Freunden aus den Bereichen der Universität und der Bekennenden Kirche führte. Seine Telefonrechnung war zuweilen so hoch, daß das zuständige Post Office sie dem armen Pfarrer nicht zumuten mochte und die Rechnung erheblich kürzte - man gewährte ihm sozusagen einen Mengenrabatt, in Vorwegnahme von Marketing-Verfahren, wie sie bei uns erst in den letzten Jahren auf dem Telefonmarkt üblich geworden sind.

Das Pfarrergehalt war in der Tat nicht üppig, und Bonhoeffer lebte in dem riesigen Pfarrhaus in Manor Mount in Junggesellenmanier bescheiden in zwei großen Zimmern, die er aber geschmackvoll einzurichten verstand. Das Haus diente gleichzeitig als Gemeindehaus; im Erdgeschoß hatte lange Jahre die deutsche Schule Forest Hill ihre Räume. Seit Mitte der 80er Jahre befindet sich an der Außenwand eine Gedenkplakette, die daran erinnert, daß Dietrich Bonhoeffer mehr als ein Jahr in diesem Haus gelebt hat. Im Winter war es dort kalt und zugig, und bei dem damals noch häufigen Londoner Nebel, der durch die Abgase des großstädtischen Verkehrs seine giftige Qualität bekam, zog Bonhoeffer sich häufig Erkältungen zu. Immer wieder kamen Gäste aus Deutschland über kurze oder längere Zeit zu Besuch. Von Wolf-Dieter Zimmermann haben wir einen Bericht über einen mehrwöchigen Aufenthalt im Londoner Pfarrhaus; während dieser Zeit war auch Franz Hildebrandt Bonhoeffers Gast. Man schlief morgens lange, gegen 11 Uhr gab es ein reichhaltiges Frühstück, bei dem bereits »The Times« studiert wurde, die einer der Besucher vom nahe gelegenen Zeitungsladen zu holen hatte. Die "Times" brachte damals eine erstaunlich gut informierte, aktuelle Berichterstattung über die politischen und kirchlichen Entwicklungen in Deutschland. Nach dem Frühstück trennte man sich und jeder ging seinen eigenen Aufgaben nach. Manchmal trafen sich die Freunde gegen 2 oder 3 Uhr noch zu einem leichten Lunch, um sich dann abends wieder im Hause zu versammeln. Der Abend war gefüllt mit Gesprächen und zum Teil heftigen theologischen Diskussionen, unterbrochen von musikalischen Einlagen am Flügel: Bonhoeffer und Hildebrandt waren beide ausgezeichnete Pianisten, und Bonhoeffer hatte seinen eigenen Flügel mit nach London transportieren lassen. Manchmal ging man auch zusammen ins Kino oder ins Theater. Der "Abend" endete häufig erst spät in der Nacht zwischen 2 und 3 Uhr.

Wenn Bonhoeffer gehofft hatte, Abstand von den deutschen Auseinandersetzungen zu gewinnen, so erfüllte sich diese Hoffnung nur sehr teilweise. Er war ja in London nicht der einzige deutsche Pfarrer, sondern es gab 6 deutsche evangelische Gemeinden, und darüberhinaus noch weitere fünf Gemeinden im übrigen Großbritannien. Bereits Ende November 1933 versammelten sich die deutschen Pfarrer in Bradford (Mittelengland) zu einer mehrtägigen Konferenz, bei der Bonhoeffer einen Bericht zur aktuellen kirchlichen Lage in Deutschland gab. Es gelang ihm, die meisten der deutschen Pfarrer für seine kritische Sicht der Dinge zu gewinnen. Das ist umso erstaunlicher, als herkömmlicherweise die Auslandsdeutschen meistens deutscher als die Deutschen sind, so daß eine gewisse Tendenz zu einem kritiklosen Nationalismus besteht. Unter den deutschen Auslandsgemeinden in aller Welt waren dann auch die in England die einzigen, die sich in den Kirchenkampf eingemischt und massiv für die Bekennende Kirche votiert haben. Das ist wohl fast ausschließlich Bonhoeffers Einfluß zu verdanken. Nach seinem Weggang von London begann die klare Linie, die in den knapp zwei Jahren seines Aufenthaltes herausgearbeitet worden war, wieder zu verschwimmen.

Die Bradforder Pfarrkonferenz schrieb einen Brief an die Reichskirchenregierung, in dem unmißverständlich damit gedroht wurde, "die enge Verbindung der deutschen evangelischen Diaspora Englands mit der Heimatkirche (zu) lösen", wenn weiterhin den deutschchristlichen Forderungen nach Abschaffung des Alten Testaments und nach Aufweichung der reformatorischen Rechtfertigungslehre Raum gegeben würde. Bradford war damit aber nur ein erstes Vorgeplänkel der Auseinandersetzung mit der offiziellen deutschen Kirche, die sich über Bonhoeffers gesamte Zeit in England hinzog. Als im darauffolgenden Jahr (1934) auf der Bekenntnissynode in Barmen die Bekennende Kirche gegründet wurde, fand diese Auseinandersetzung ihren Höhepunkt in dem Beschluß des Londoner Gemeindeverbandes, sich der Bekennenden Kirche anzuschließen und der offiziellen Reichskirchenregierung die Anerkennung zu versagen. Dieser Beschluß wurde allerdings niemals rechtlich umgesetzt; u. a. verhinderte dies der Auslandsbischof Heckel durch sein geschicktes Taktieren. - Ich füge hier eine Anmerkung über Bischof Heckel ein: Heckel, der ursprünglich Bonhoeffer sehr zugetan war und ihn auch auf die Pfarrstelle in London aufmerksam gemacht hatte, wurde im Lauf der Auseinandersetzungen zu einem seiner schärfsten Gegner. Das ging schließlich so weit, daß er ihn 1936 in einem Brief an den zuständigen Berliner Landeskirchenausschuß als "Pazifist und Staatsfeind" denunzierte und verlangte, Maßnahmen zu ergreifen, "daß nicht länger deutsche Theologen von ihm erzogen werden."(3) Bald darauf verlor Bonhoeffer seine Lehrbefugnis an der Universität Berlin.

Nicht nur seine Gemeindearbeit und nicht nur sein Einsatz für den Kirchenkampf in Deutschland beschäftigten Bonhoeffer während seiner Londoner Zeit. Mitten in diese Periode fiel auch eine wichtige ökumenische Konferenz, die Weltkirchenkonferenz in Fanø im August 1934. Mit Hilfe von Bischof Bell gelang es Bonhoeffer, die Konferenz zu einer Resolution zu bewegen, die der Bekennenden Kirche in Deutschland ihre herzliche brüderliche Verbundenheit und ihre Fürbitte zusichert. Das war ein deutlicher Affront gegen die offizielle deutsche Kirche, und hier wird deutlich, in welche Gefahr sich Bonhoeffer begab, wenn er von außen her durch ökumenische Gruppierungen auf die Situation in Deutschland einzuwirken versuchte. Leicht wurde man in Deutschland als Volksverräter abgestempelt, wenn man durch ausländische Presseorgane oder andere Meinungsträger vom Ausland her Opposition betrieb. In diesem Punkt hat Bonhoeffer bereits damals subversiv gearbeitet, indem er seinen Einfluß auf solcherlei ökumenische Verlautbarungen so bescheiden wie möglich dargestellt hat. - Anders war das mit seinem "pazifistischen" Appell in dem Vortrag "Kirche und Völkerwelt", der natürlich viel Aufsehen erregt hat und auch in Deutschland nicht unbeachtet blieb. Darin spricht er die Weltkirchenkonferenz als Allgemeines Christliches Konzil an und ruft sie auf, den Kirchen der Welt ein verbindliches Nein zum Krieg zu gebieten im Namen des Gottes, der den Frieden will. Mit großer Eindringlichkeit zeichnet Bonhoeffer das Bild einer Kirche jenseits allen nationalistischen Denkens: Die "Kirche Christi lebt zugleich in allen Völkern und doch jenseits aller Grenzen völkischer, politischer, sozialer, rassischer Art, und die Brüder dieser Kirche sind durch das Gebot des einen Herrn Christus, auf das sie hören, unzertrennlicher verbunden als alle Bande der Geschichte, des Blutes, der Klassen und der Sprachen Menschen binden können."(4)  Bonhoeffer folgert daraus, daß Menschen, die an Christus glauben, nicht die Waffen gegeneinander richten können, "weil sie wissen, daß sie damit die Waffen auf Christus selbst richteten."(5) Und: "Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muß gewagt werden, ist das eine große Wagnis, und läßt sich nie und nimmer sichern.«  Weder der einzelne Christ noch die einzelnen örtlichen Kirchen könnten diesen Frieden ausrufen. »Nur das Eine große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt kann es so sagen, daß die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muß und daß die Völker froh werden,weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt. Warum fürchten wir das Wutgeheul der Weltmächte? Warum rauben wir ihnen nicht die Macht und geben sie Christus zurück? . . . worauf warten wir noch? Wollen wir selbst mitschuldig werden, wie nie zuvor?"(7)

Wir müssen uns vorstellen, daß der Deutsche Bonhoeffer diese prophetischen Worte im Jahr 1934 gesprochen hat, als die meisten noch nicht glauben mochten, daß Krieg in der Luft lag. Auch die ökumenische Konferenz hat damals zwar diesen Appell bewegt gehört, konnte sich aber nicht dazu entschließen, eine entsprechend radikale Resolution zu verabschieden. Fast genau fünf Jahre später schon war es so weit, daß deutsche Truppen in Polen einrückten und damit den zweiten Weltkrieg vom Zaun brachen. Zu dieser Zeit redete Bonhoeffer nicht mehr so frei heraus. Jetzt wußte er, daß die Zeit der freien Rede vorüber war; jetzt konnte nur noch konspirativer Widerstand geleistet werden. Aber er hatte seine Zeit der freien Rede genutzt. Man kann fragen, ob es diesen Krieg, der ja noch heute mit seinen Auswirkungen die Beziehungen zwischen unseren beiden Völkern belastet, möglicherweise nicht gegeben hätte, wenn die Konferenz in Fanø Bonhoeffers Appell ernsthaft aufgenommen hätte.

Es spricht für die Bekennende Kirche, daß sie trotz mancher Vorbehalte gegen die radikalen Positionen dieses jungen Theologen auf Dietrich Bonhoeffers aktive Mitarbeit in Deutschland nicht verzichten wollte. Als der Aufbau einer eigenen Theologenausbildung für die Bekennende Kirche notwendig wurde, bat sie ihn, den Aufbau eines "illegalen" Predigerseminars zu übernehmen, das dann in Zingst und bald in Finkenwalde seine Arbeit begann. So kehrte Bonhoeffer bereits im März 1935 nach Deutschland zurück. Vorher unternahm er, zusammen mit seinem Freund Julius Rieger, der an der benachbarten St. Georgsgemeinde in London Pfarrer war, eine besondere Reise, die für das innere Leben seines Predigerseminars von großer Bedeutung werden sollte. Rieger, der darüber in seinem kleinen Büchlein "Dietrich Bonhoeffer in England" liebevoll berichtet hat, nennt sie die "Klosterreise", denn ihr Ziel waren die anglikanischen Klöster oder Kommunitäten in Kelham, Mirfield und Oxford. Es ging Bonhoeffer darum, nicht-katholische Formen des gemeinsamen Lebens und einer meditativen, an feste Ordnungen gebundenen Frömmigkeit kennenzulernen. Die Eindrücke, die er von dieser Reise mitnahm, haben seine Versuche des "Gemeinsamen Lebens" mit den auszubildenden Theologen im Predigerseminar Finkenwalde stark geprägt. Das Büchlein "Gemeinsames Leben" gibt Zeugnis von den theologischen Begründungen und den Erfahrungen, die er damit gemacht hat.

Die Zeit in London war eine wichtige Episode in Bonhoeffers Leben. Sie bedeutete ein Atemholen vor neuen Kämpfen, eine Ausweitung des ökumenischen Horizonts, und sie war eine Vergewisserung, daß die Bekennende Kirche ihn in Deutschland wirklich brauchte. Karl Barth hatte ihm 1933 geschrieben: " . . . man darf ja jetzt nicht müde werden. Und so darf man jetzt noch weniger nach England gehen! Was in aller Welt wollen Sie dort drüben? . . . Sie müßten . . . im Grunde mit dem nächsten Schiff auf Ihren Posten zurückkehren . . . Nun, sagen wir: mit dem übernächsten!"(8)  Ganz so sinn- und folgenlos war Bonhoeffers Englandaufenthalt gewiß nicht. Aber als er mit einem der übernächsten Schiffe zurückfuhr, war der Kurs klar vorgezeichnet.

Trotzdem hat er später nochmals einen "Fluchtversuch" gemacht, im Sommer 1939 in die USA. Von dort kam er, nach quälender Gewissenserforschung, auch wieder mit einem Schiff, und zwar buchstäblich mit dem letzten Schiff nach Deutschland zurück, bevor der 2. Weltkrieg vom Zaun gebrochen wurde. Er konnte und wollte sich nicht von dem Kampf dispensieren, der ihm und seinen Freunden aufgedrungen worden war. Ihm war endgültig klar geworden, wohin er jetzt gehörte: Er mußte dabei sein.

Martin Hüneke, Bad Iburg (3. Mai 1999)

Fußnoten:

(1) DBW Bd. 12, S. 260

(2) E. Bethge, Dietrich Bonhoeffer, S. 374; in Anspielung auf die Redewendung, »der würde sich im Grabe herumdrehen, wenn er das erlebte«.

(3) DBW Bd. 14, S. 126

(4) DBW Bd. 13, S. 299f.

(5) a. a. O.

(6) a. a. O., S. 300

(7) DBW Bd. 13, S. 301

(8) DBW Bd. 13, S. 31ff