Ökumenischer Über-Kirchenvater

Dietrich Bonhoeffer, 1945 ermordet, ist heute der einflussreichste deutsche Theologe

06. April 2005


von Gernot Facius

Der Mann, der in den frühen Morgenstunden des 9. April 1945 in Flossenbürg die Stufen zum Galgen hinaufstieg, gefaßt und "innig mit seinem Herrgott verbunden", wie ein KZ-Arzt notierte, hat die christliche Nachkriegstheologie beeinflußt wie kaum ein Zweiter seiner Generation. Mit seinem Diktum, daß Kirche vor allem Kirche für andere zu sein habe, brach Dietrich Bonhoeffer mit der alten Kirchen-Innerlichkeit. Er predigte die Gegenwart Christi in der Welt; er schuf ein anderes, überkonfessionelles Kirchenbild, zu dem sich heute "linke" wie "rechte" Theologen bekennen: Nicht im Möglichen schweben, sondern das Wirkliche tapfer ergreifen! Glaube als Nachfolge, mit allen Konsequenzen. Das ist das Vermächtnis des vor 60 Jahren Hingerichteten.

"Nachfolge", sagt der Bonhoeffer-Schüler Albrecht Schönherr, "Nachfolge geht nicht nur durch Kopf und Herz, sondern fordert den ganzen Menschen." Der katholische Dogmatiker Gerhard Ludwig Müller, Bischof von Regensburg, als "Hardliner" des Episkopats verschrien, hat über Bonhoeffers Theologie sogar seine Doktorarbeit geschrieben: beim heutigen Kardinal Karl Lehmann. Spuren des Denkens des Pastors der Bekennenden Kirche finden sich selbst in Müllers Arbeiten über die Befreiungstheologie. Daß Kirche nicht missionieren kann, wenn sie nicht selber Mission ist, daß Glaube und Lebenswirklichkeit zusammengehören, daß nur eine dienende Kirche wahrhaftig sein kann, das gehört heute zu den festen ökumenischen Grundsätzen.

Bonhoeffer spaltet nicht mehr (was auf die unmittelbare Nachkriegszeit noch zutraf). Er ist zu einem ökumenischen Über-Kirchenvater geworden. 60 Jahre nach seinem Tod erinnert man sich, daß der Denker für eine mündige Welt, für eine Kirche ohne Macht und Privilegien, seit 1933 die treibende Kraft gegen die Judenverfolgung war - er hielt das Schweigen der Kirche nach den Pogromen 1938 für einen Sündenfall. Der christliche Antijudaismus hat Protestanten wie Katholiken daran gehindert, entschlossen dem Rad in die Speichen zu greifen.

1950 hat die EKD mit ihrer Erklärung von Weißensee eine radikale theologische Wende vollzogen: Jegliche Art des Antijudaismus wird verurteilt; die katholische Kirche rang sich erst auf dem Zweiten Vatikanum (1962-65) dazu durch, zeitgleich mit der vollen Bejahung der Menschenrechte und der Demokratie. Seit Weißensee gewann auch die zweite These der Barmer Erklärung von 1934 wieder an Bedeutung: "Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften."

In konkreter Form begann das theologische Gespräch über Auschwitz und die Folgen erst in den 1970er Jahren. Der katholische Dogmatiker Michael Schmaus hatte noch die Auffassung vertreten, im Holocaust sei Gott am Werk gewesen, um sein Volk zu Christus zu bekehren. In der Konsequenz hätte das bedeutet: Die Nazi-Schergen waren nur Gottes Vollstrecker und somit exkulpiert. Elie Wiesel, jüdischer KZ-Überlebender und Friedensnobelpreisträger, schrieb: "Die Aussage, wir hätten für Gott gelitten, enthielte die Behauptung einer Rechtfertigung und versähe das Leiden, das Menschen über uns verhängt haben, mit religiöser Bedeutung."

Solchen Tendenzen setzten Johann Baptist Metz (katholisch) und Jürgen Moltmann sowie Dorothee Sölle (beide evangelisch) ihre "Theologie nach Auschwitz" entgehen. "Fragt euch, ob die Theologie, die ihr kennen lernt, so ist, daß sie vor oder nach Auschwitz eigentlich die gleiche sein könnte. Wenn ja, dann seid auf der Hut", schärfte Metz seinen Schülern ein. Christliche Theologie kann nun nicht mehr gegen das Judentum, sondern nur mit ihm betrieben werden. Sie hat ihr altes Gewand abzulegen und das Problem des Leidens in den Blick zu nehmen, sie muß sich dem Vergessen und Verdrängen widersetzen.

Die unauflösliche Verwandtschaft zwischen Juden und Christen sowie das Wiederentdecken verlorengegangener oder verdrängter Gemeinsamkeiten gehören zu den Essentials dieser Theologie. "Wenn die jüdische Wurzel vergessen wird, führt dies zu einer verkürzten Sichtweise christlicher Identität", warnt der bayerische evangelische Landesbischof Johannes Friedrich. Der Summe der Erfahrungen mit dem heidnischen Projekt Nationalsozialismus erwuchs ein neues Verhältnis gegenüber den Juden als den "älteren Brüdern".

Aber auch eine Ethik des Widerstandes, aus Glauben. Dem deutschen Protestantismus blieben auch nach der Katastrophe von 1945 Richtungskämpfe nicht erspart. In einem zeigte er sich allerdings bald einig: in der Bereitschaft, öffentliche Verantwortung zu übernehmen. "Die Kirche konnte nicht mehr unpolitisch sein", rekapituliert der evangelische Münsteraner Kirchengeschichtler Wolf Dieter Hauschild die Konsequenz. Und sein Münchner Kollege Harry Oehlke sieht in der Tatsache, daß der einst "bis in die Knochen nationalkonservativ geprägte Protestantismus", der die Trennungsimpulse von Luthers Zwei-Reiche-Lehre ernst, vielleicht zu ernst nahm, sich zur Mitgestaltung der Demokratie bekannte, eine der "großen konstruktiven Wirkungen" der Erfahrungen aus der Zeit vor 1945. Kirche, darin stimmen Protestanten und Katholiken überein, hat Anwalt der fundamentalen Rechte aller Menschen zu sein. Dazu gehört eine innerliche Aneignung der Demokratie.

Der katholische Politologe Hans Maier schrieb schon 1972: Das Eintreten für die Kirche und ihre Grundsätze in der Öffentlichkeit kann nicht geschehen ohne Rücksicht auf die anderen, welche die gleiche Demokratie mittragen. Die Vertretung eines simplen Interessenstandpunkts muß der Kirche verwehrt sein. Sie wäre sonst nur eine x-beliebige pressure group. Keine dienende Kirche.

Quelle: Die Welt vom 23. März 2005