"Flut in Asien - wo war Gott?"

Wolfgang Huber bei Studio Friedmann, 6. Januar, N24

26. Januar 2005


F: Herzlich willkommen bei Studio Friedman. Es fällt einem schwer, in diesen Tagen von einem frohen, gesunden Neuen Jahr zu sprechen. Aber vielleicht muss man das gerade in solchen Tagen in Anbetracht des Leids, das wir erleben und das andere erleben. Eine der größten Naturkatastrophen der Gegenwart erschüttert uns und viele fragen sich: War es Schicksal oder Zufall? Darüber möchte ich heute abend diskutieren mit dem Bischof Wolfgang Huber, dem Vorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland. Guten Abend.

H: Guten Abend, Herr Friedman.

F: So viel Trauer, so viel Schmerz, so viel Unglück.

Trailer: Die Naturgewalt des Wassers. Und der schutzlose Mensch. Und wo bleibt Gott? Inmitten der Zerstörung ein Gotteshaus, nahezu unberührt - wie ein Mahnmal. Leichen vor einem Tempel, Seite an Seite aufgereiht. Begleitet von der Trauer der Angehörigen. Auch in diesem Schmerz immer wieder die Frage: Wie konnte Gott das zulassen? Befürchtet werden 200.000 Tote. Die Folgen der Flutwelle in Asien nehmen mehr und mehr biblische Ausmaße an. Die aktuellen Bilder erinnern an Darstellungen des Jüngsten Gerichts. Die Flutwelle als Strafe Gottes? Nach dieser Katastrophe stellen Millionen Opfer die Frage: Warum traf es gerade mich? Wo liegt der höhere Sinn?

F: Wo war Gott, als das Wasser die Menschen heimsuchte?

H: Gott war hoffentlich so nahe bei den Menschen, dass er die Menschen, die dieses Schreckliche erlebt haben, aufgefangen hat in einer Weise, die wir nicht beschreiben können. Ich glaube fest daran, dass Gott auf der Seite der Leidenden steht, nicht auf der Seite der Gewalt, so dass ich darauf vertraue, dass auch diejenigen, die das erleben mussten, auch ihre Angehörigen, auch die, die hinterblieben sind, von diesem schrecklichen Geschehen zu Gott flüchten können.

F: 200.000 Menschen können nicht mehr zu Gott flüchten, sie sind tot. Wer ist schuld an ihrem Tod?

H: Schuld an ihrem Tod ist die Gewalt der Natur, aber auch die Art und Weise, in der wir mit ihr umgehen, auch die Tatsache, dass eine Warnung, die in vielen Fällen möglich gewesen wäre, nicht stattgefunden hat. Es ist ein Wechselspiel zwischen der Natur, die nicht nur eine tote Materie, sondern die ihr eigenes Leben hat und der Art und Weise, in der wir Menschen mit ihr umgehen.

F: Aber die Materie, die Natur, all das hat auch mit Gott zu tun und das Selbstverständnis der drei monotheistischen Weltreligionen, also auch des Christentums, ist, dass Gott allmächtig ist. Trägt Gott Verantwortung, auch für dieses Unglück?

H: Die Allmacht Gottes darf man sich, nach meiner festen Überzeugung, nicht so vorstellen, dass Gott aus dem Lauf der Dinge vorher alles Böse und alles Unfassbare herausschneidet. Das tut er weder bei Ihnen noch bei mir im Blick auf die Abgründe, die es auch in unserem Leben gibt und er tut auch nicht im Blick auf den Gang der Natur. Wir leben noch nicht im Paradies, wir leben in der noch nicht erlösten Welt.

F: Aber wir sagen "Lieber Gott". Wenn ein lieber Gott so etwas zulässt, dass 200.000 Menschen durch eine Naturkatastrophe sterben, was wäre dann erst ein böser Gott?

H: Dieser Gott lässt auch die Nachricht zu, die ich heute bekommen habe: dass ein Mensch, der mir sehr nahe ist, an Krebs erkrankt ist und nicht weiß, wie lange er noch zu leben hat. Es gibt die rätselhaften Begrenzungen des Lebens, die ich nicht durch eine theoretische Aussage über Gott, der das zulässt, aus der Welt schaffen kann, sondern wo ich sprachlos bin, wo ich auch an Gott zweifele, wo ich auch meine Verzweifelung laut herausschreien muss und trotzdem am Ende darauf hoffe, dass ich mich wieder zu Gott fliehen kann.

F:  Und trotzdem trägt Gott Verantwortung auch für die Katastrophen, die stattfinden. Oder lassen wir Gott in einem verantwortungslosen Raum in dem Augenblick, wo Unglück stattfindet?

H: Nein, wir lassen ihn nicht in einem verantwortungslosen Raum, wir vertrauen auf ihn als den Schöpfer, zu dessen Schöpfung auch das Rätselhafte dazugehört und wir vertrauen auf ihn als denjenigen, der sich uns in Liebe zuwendet, so dass wir die Richtung wahrnehmen können, in der wir auch dieses Unfassbare sehen müssen.

F: Bischof Huber, Hunderttausende Menschen haben, um Sie noch mal zu zitieren, in Liebe Gott vertraut und sind in den Fluten krepiert, umgekommen und ertrunken. War das der Beweis für Liebe?

H: Nein, das ist ein Grund, dass wir aufbegehren und uns fragen: Warum musste das geschehen, aber zugleich auch fragen: Was kann geschehen, um den Opfern, den Hinterbliebenen zu helfen und was kann geschehen, dass sich so etwas nicht wiederholt?

F: Warum?

H: Denn es ist nicht nur ein Handeln der Natur, es ist auch nicht nur ein Handeln Gottes, es ist auch menschliches Handeln.

F: Warum ist es passiert?

H: Es ist passiert, weil sich Erdplatten gegeneinander verschoben haben, weil ein Seebeben entstanden und weil Menschen ahnungslos am Ufer waren und nicht gewarnt waren.

F:  Aber diese natürlichen Prozesse, die Sie beschreiben, sie sind doch auch von Gott bestimmt und geleitet. Wenn man an Gott glaubt, den Allmächtigen, der diese Erde, der die Menschheit auch geprägt hat, der das Ganze zum Leben gebracht hat, dann sind diese Vorgänge doch auch von Gott zu verantworten.

H: Mein Glaube schließt nicht ein, dass Gott deterministisch jeden einzelnen Naturvorgang steuert, das ist nicht meine Vorstellung von Gottes Allmacht. Sondern meine Vorstellung von Gottes Allmacht ist, dass sie auch den Widerspruch enthält gegen dasjenige Leiden, was es in dieser Wirklichkeit, der unerlösten Wirklichkeit, gibt.

F: Darf ich Gott entlasten? Kann man in diesen Tagen, wenn man diese Bilder sieht, wenn man zu Hause ist, wenn man Angehörige hat, wenn man Freunde hat, kann man wirklich mit so einer Aussage Gott aus der Verantwortung entlassen?

H: Das ist nicht mein Punkt, dass ich Gott aus der Verantwortung entlasse. Ich klage auch gegenüber Gott. Ich wehre mich bloß innerlich dagegen, dass ich irgendwo ein theoretisches Gebäude mache, das dann irgendwo in der Allmacht Gottes auch dafür die Erklärung hätte und mir einbilde, dass ich dadurch das Leiden, die Ausweglosigkeit leichter machen könnte. Ich glaube nicht, dass ich damit einem derjenigen, die unter dieser Situation leiden, wirklich helfen könnte.

F: Aber machen wir es uns nicht erst recht leicht, gerade wenn man gläubig ist, gerade wenn man an eine Religion, wenn man an Gott glaubt, machen wir es uns nicht leicht, das, was wir nicht verstehen, das, was Leid und Unglück ist, dadurch weg zu schieben, indem wir sagen: Da möchte ich kein theoretisches Gebäude aufbauen? Muss es nicht dafür auch von der Religion, auch von den Priestern, den Rabbinern eine Antwort geben, die den Menschen verständlich macht, was hier unverständlich scheint?

H: Wenn man sagen würde, und das ist ja versucht worden, das ist eine Schattenseite, die gehört notwendigerweise zur besten aller Welten dazu - Leibniz hat so geredet - empfinde ich das eine Verharmlosung. Während ich die Haltung, die mit dem Leidenden mitleidet und dann zu dem Gott schreit, wie Jesus zu ihm geschrieen hat: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Und auf ihn wartet, dass er sich uns wieder zuwendet - das finde ich die wahrhaftigere Position.

F: Wenn das so ist und wir stellen uns jetzt einfach vor, wir sind einer dieser 200.000 und wir schreien: Gott, Gott, warum hast du mich verlassen? Warum hat Gott diesen Einen 200.000mal verlassen?

H: Dafür gab es nicht einmal am Kreuz Jesu eine Erklärung. Es gibt dafür keine Erklärung. Es gibt nur die Hoffnung, auch noch im Leiden, dass Gott das Leben will und nicht den Tod.

F: Sie haben gesagt, dass diese Sintflut und die Sintflut an sich nicht eine überholte Sage sei. Was meinten Sie damit?

H: Damit meinte ich, dass es nicht eine Erfindung ist, sondern dass es offenbar einen realen Hintergrund hat, so wie wir jetzt ein sintflutartiges Geschehen erlebt haben. Und dass die biblische Sintflutgeschichte der Versuch einer Deutung einer solchen Erfahrung ist.

F: Also dann wollen wir das mal ganz kurz machen. Als Sintflut wird im Buch Genesis der Bibel eine große, weltumspannende Flut bezeichnet, mit der Gott die Menschen für ihr sündiges Leben bestraft haben soll. Ich zitiere: "Und wie es geschah zu den Zeiten Noahs, so wird auch geschehen in den Tagen des Menschensohnes. Sie aßen, sie tranken, sie freiten, sie ließen sich freien bis auf den Tag, da Noah in die Arche stieg und die Sintflut kam und brachte sie alle um." Wenn wir das Bild der Sintflut, das Sie eben noch mal beschrieben haben, nehmen, dann sind die Menschen doch Schuld daran, dass sie umgekommen sind.

H: Man muss ja die Sintflutgeschichte insgesamt sehen. Sie erzählt insgesamt eine Geschichte, zu der die Schuld der Menschen, die Strafe und die Bewahrung dazugehört. Das sind die drei Schritte, in denen die Sintflutgeschichte sich vollzieht und...  

F:  Haben sich 200.000 Menschen schuldig gemacht im Sinne der Sintflutgeschichte der Bibel, des Glaubens?

H: Nein. Seitdem schauen wir auf diese Sintflutgeschichte zurück und sagen, dass zu der Verheißung, die am Ende dieser Geschichte steht, gehört, dass eine solche Verurteilung der Menschen insgesamt mit der Bewahrung von nur einer Familie, und jeweils nur einem Paar der Tiere, dass diese Sintflut sich nicht wiederholen soll.

F: Aber Sie haben dieses Bild der Sintflut für die aktuelle Situation auch noch mal gewählt. Und dann müssen wir dann doch einen Augenblick sehr konkret miteinander reden, die Sintflut, wie Sie sie auch selbst verwendet haben, macht den Menschen selbst schuld und verantwortlich, dass die Sintflut über ihn kommt. Ist das für die jetzige Situation das richtige Bild?

H: Die Sintflut ist das biblische Bild dafür, dass solche kosmischen, als kosmisch empfundenen Katastrophen tatsächlich geschehen können.

F: Ja, aber weil der Mensch Schuld auf sich gelassen hat, weil der Mensch sie verursacht. Er ist schuld daran, dass die Sintflut kam und wenn wir heute davon sprechen, müssten wir die Frage stellen: Sind die Menschen, die jetzt Opfer waren, schuld? Haben sie Schuld auf sich geladen? Ist deswegen das, was an der Naturkatastrophe stattgefunden hat, ist deswegen der Tod für sie gekommen?

H: Nein, das ist in meinen Augen keine mögliche Interpretation dessen. Denn die Vorstellung vom Gericht Gottes und dem Verhältnis zwischen Schuld und Gericht Gottes kann ich immer nur auf mich selber beziehen. Ich habe kein Recht dazu, von den über 200.000 Menschen, die um den Indischen Ozean herum um Leben gekommen sind, zu sagen: Das sei Gottes Strafe für sie. Ich muss mich immer fragen: Was ist eigentlich Gottes Urteil über mich selber?

F: Ja, aber wir beide leben, die 200.000 sind schuldig, es gibt ja Gottes Strafe. Gibt es Gottes Strafe?

H: Wir beide haben keinen Grund dazu anzunehmen, dass unsere Schuld geringer sei, weil wir hier überlebt haben und nicht in Sri Lanka oder Sumatra gewesen sind.

F: Gibt es Gottes Strafe?

H: Es gibt Gottes Strafe. Aber wie die eigene Schuld und Gottes Strafe zueinander im Verhältnis stehen, das kann ich immer nur auf mich selber beziehen, weil nämlich das Bekenntnis meiner Sünde und die Einsicht, dass Gott über diese meine Sünde richtet, zusammen gehört und ich nicht unabhängig davon über jemanden anders sagen kann: Er empfängt jetzt Gottes Strafe.

F: Nicht wir sagen das, und trotzdem: Sie haben dieses Bild Sintflut, Arche Noah gewählt. Bleiben wir einen Augenblick dabei.

H: Sie haben bloß Ihrerseits aus dem Bild Sintflut einen bestimmten Aspekt herausgenommen...

F: ...der die Voraussetzung ist für die beiden anderen...

H: ...der ein Element ist in der Deutung eines Naturgeschehens, das für die Menschen unbegreiflich war und das sie für sich verständlich gemacht haben in dem Dreischritt von Schuld, Strafe und Bewahrung. Und deswegen müssen wir uns fragen, angesichts dieser Beschreibung eines Grundgeschehens im 1. Buch Mose am Anfang der Bibel, am Anfang dessen, was die Christen Altes Testament nennen, was das für unser Verständnis bedeutet und dann müssen wir sagen: Solche großen Ereignisse wiederholen sich auch unter uns und wir haben Grund, den Hochmut des modernen Menschen gegenüber der Natur zu zügeln, wir haben Grund, wieder zu lernen, dass wir auch gegenüber der Natur als einem Teil von Gottes Schöpfung Demut üben müssen und nicht nur Herrschaftsansprüche geltend machen dürfen. Wir haben zweitens Grund, unsere eigene Schuld bei uns selber zu suchen und dann erst auf Gottes Bewahrung zu hoffen.  

F:  Aber Bischof Huber, wenn ich Ihnen zugehört habe, und wenn ich dann jetzt den Umkehrschluss versuche, heißt es, weil wir nicht genug Demut haben, weil wir nicht genug die Natur respektiert haben, heißt es, dass Gott uns damit diese Strafe geschickt hat?

H: Dieses Urteil treffe ich so nicht, sehr wohl aber sage ich, dass das Ausmaß der Katastrophe auch mit menschlicher Schuld zusammenhängt. Aber nicht der Schuld derjenigen, die dort die Opfer geworden sind, sondern einer Schuld, an der auch wir beteiligt sind. Nämlich zum Beispiel: Urlaubsanlagen so nah bis ans Meer heranzubauen, ohne entsprechende Warnsysteme überhaupt ins Kalkül zu ziehen. Weiterhin eine zweigeteilte Welt zu haben, in der im Pazifik zwar solche Warnsysteme aufgebaut werden, aber man meint, man hat sie für den Indischen Ozean nicht nötig. Alle solche Fragen müssen wir tatsächlich stellen.

F: Aber das sind sehr menschliche Fragen. Das sind Fragen, die die Entscheidungen des Lebens, der Lebendigen und damit auch die Schuld und die Verantwortung der Menschen hier betrifft und die Frage stellt sich trotzdem: Wenn Gott als die andere Ebene über den Menschen eine solche Konsequenz zulässt, was bedeutet das für uns? Was ist die Schlussfolgerung für uns? Mehr Demut?

H: Mehr Demut, mehr Verantwortungsbereitschaft, der Versuch, Liebe zum Nächsten zur Richtschnur des eigenen Handelns zu machen.

F: Sie sagten weiter, ich zitiere Sie: Nicht die Allmacht Gottes, sondern die Allmachtsvorstellung des modernen Menschen werden durch dieses Geschehen in ihre Schranken gewiesen. Wer bestraft wen und warum die Menschen, die gestorben sind?

H: Ich sage ja nicht, dass diese Menschen bestraft werden. Es ist ein unfassbares Geschick, aber ..

F: Ist es ein sinnloser Tod?

H: Es ist ein sinnloser Tod. Ich gebe diesem Tod keinen Sinn, auch nicht einen Sinn, indem ich ihn zurückführe auf Gottes Strafe.

F: Aber wie will man einem gläubigen Menschen gegenüberstehen, der trauert um seine Opfer, wie will man ihn mit dem Hinweis trösten, dieser Tod war sinnlos?

H: Vielleicht doch eher als wenn ich ihm sage: Dieser Tod war Gottes Strafe. Vielleicht ist es doch redlicher ihm zu sagen: Diesem Tod gebe ich keinen Sinn. Ich trauere mit dir darüber, dass ein Leben abgebrochen ist und ich versuche darauf zu vertrauen, dass es eine Zukunft für dieses Leben gibt über diesen Tod hinaus.

F: Wir haben alle gelernt, dass Gott im Gegensatz zum Menschen ein gerechter Gott ist. Was ist denn daran gerecht, dass diese Menschen so krepieren mussten? Wo ist der gerechte Gott?

H: Daran ist nichts gerecht. Gott ist darin gerecht, dass er uns dazu ermutigt, gegen dieses Sterben aufzubegehren und nicht darin, dass er uns die Behauptung in den Mund legt, dieses Sterben sei gerecht.

F: Aber an Aids sterben jährlich zwei Millionen Menschen, an Unterernährung zehn Millionen Menschen. Ich komme noch mal auf das Gerechtigkeitsbild Gottes zurück. Was ist daran gerecht, dass Millionen Menschen, Kinder, Kranke, sterben. Warum lässt Gott das zu?

H: Ich kann Ihnen diese Frage nicht beantworten. Ich kann Ihnen nicht einen Gott vorstellen, dem ich unterstelle, dass er das alles zulässt.

F: Also, indem Sie sich entlasten, indem Sie also sagen, ich kann einem solchen Gott das nicht unterstellen und deswegen kann ich nicht eine Antwort darauf geben, entlasten Sie sich gleichzeitig von der größten Sinnfrage Gottes. Denn wenn Gott allmächtig ist, wenn Gott gerecht ist, wenn Gott gut ist, also wenn dieses Gottesbild, das wir in den monotheistischen Religionen ja tragen, wenn diese Attribute alle stimmen sollten, dann müssen wir doch auch eine Antwort entwickeln können, wo Gott versagt. Ist es möglich, dass Gott versagt?

H: Als Christ halte ich mich daran, dass Gottes Allmacht sich im Leiden zeigt. Und dass Gottes Gerechtigkeit mir darin zugeeignet wird, dass Gott sich im Leiden mir zeigt und mir dadurch eine neue Zukunft eröffnet.

F: Gott soll leiden oder der Mensch soll leiden?

H: Gott leidet, weil Menschen leiden. Das ist keine Alternative.

F: Das würde aber zu Ende gedacht bedeuten, dass Gottes Funktion sich im Leid eher darstellt als in der Freude des Menschen. Aber ein guter Gott, ein Gott, der den Menschen liebt, den er geschöpft hat, ein solcher Gott kann sich doch nicht mehr identifizieren an seiner Kreatur, wenn sie leidet als wenn sie sich freut.

H: Das ist wieder so eine Alternative, die mir mit zu vollziehen gar nicht leicht fällt. Gott identifiziert sich mit seiner Kreatur bis in die tiefsten Tiefen ihrer Existenz hinein. Das bedeutet doch nicht, dass ihm die Höhepunkte dieser Existenz gleichgültig sind. Das eine braucht doch das andere überhaupt nicht auszuschließen.

F: Wo soll der Mensch dann Hoffnung haben, dass es ihm eines Tages besser geht, wenn Gott zulässt, dass es ihm auch - wie in diesem Fall - 200.000mal schlecht geht, stirbt?

H: Darin, dass es um Gottes Willen eine Hoffnung gibt über Tod und Leiden hinaus.

F: Diesen Sonntag werden Sie mit Kardinal Lehmann einen Gottesdienst abhalten, um den Menschen Trost zu spenden. Was werden Sie Ihnen sagen?

H: Warum soll ich jetzt heute schon im Fernsehen sagen, was ich am Sonntag im Gottesdienst sagen werde?

F: Sie sollen es ja auch nicht wörtlich sagen, mich interessiert: Wo findet der Mensch, der Ihnen zuhört, den Trost? Welche Gedanken haben Sie, um Trost zu spenden?

H: Ich suche den Trost darin, mit Menschen zunächst einmal auch auszuhalten, was sie erleiden und nicht vorschnell diese große Welle, die Schmerz und Unheil ausgelöst hat, klein zu reden, indem ich sage: Ich weiß eine Erklärung dafür. Ich suche Trost darin, dass ich darauf hoffe, dass es eine Welle der Liebe Gottes gibt, die Menschen erreicht, die jetzt große Fragen haben und ich hoffe, dass sie in uns allen eine Zuwendung zu den Menschen in Not auslöst, die durch unsere Hilfe zum Ausdruck kommt.

F: Stellen Sie sich vor, jemand, der jetzt betroffen ist und sich vorstellt, Gott hat das zugelassen, mindestens zugelassen, wie soll er Trost finden in den Gotteshäusern, die sich auf Gott berufen, wenn er annehmen muss, dass Gott eine Ursache seines Leidens ist?

H: Er kann nur Trost darin finden, wenn er in diesen Gotteshäusern von Gott mehr hört als eine solche Aussage, die meint, die Ursache dieses Geschehens mit einem Sinn versehen zu können.

F: Aber wenn Gott allmächtig ist, wenn Gott gerecht ist, wenn Gott wirklich alles lenkt auf dieser Welt, wie kann die Kirche oder auch andere Religionen einen Trost aussprechen, wenn die Menschen, die das annehmen, die an Gott glauben, die Ursache ihres Leides mit Gott verknüpfen? Wie schafft man das, diesen Knoten aufzulösen?

H: Ich glaube nicht, dass es um das Auflösen eines Knotens geht, ich glaube, dass es um das Beschreiten eines Weges geht. Und ich glaube, dass es darum geht, dass wir den Weg bis in die tiefsten Tiefen hinein wirklich gehen, die Menschen erfahren. Und dass wir in diesen tiefsten Tiefen dann auch spüren, dass Gott diesen Weg mitgeht. Das ist die feste Überzeugung, die ich habe und von dieser festen Überzeugung werde ich auch am Sonntag sprechen.

F: Können Sie verstehen, dass Menschen nach solchen oder anderen Katastrophen den Glauben an Gott verlieren?

H: Ich kann das verstehen. Ich kann verstehen, dass Menschen in solchen Katastrophen an Gott zweifeln und auch verzweifeln und ich möchte gern, dass sie in mir einen Menschen sehen, der in diese Verzweiflung mit ihnen hineingeht.

F: Zweifeln Sie in solchen Situationen auch an Gott?

H: Ja, ich zweifle in solchen Situationen auch an Gott.

F: Verzweifeln Sie in solchen Situationen an diesem Gott?

H: Ich bin dankbar dafür, dass ich in meinem Leben an Gott noch nicht verzweifelt bin. Aber ich habe ein ganz tiefes Verständnis für Menschen, die bis in diese Verzweiflung hineingestoßen worden sind und ich möchte bis in diese Verzweiflung hinein mit ihnen gehen.

F: Was sind Ihre Zweifel, wenn Sie anhand solcher Katastrophen selbst eingestehen, dass Sie Zweifel an Gott haben. Was sind das für Zweifel?

H: Das ist der Zweifel, dass Menschen, die eine Lebenshoffnung und einen Lebensplan haben, von einer Sekunde auf die andere von dieser Lebenshoffnung und diesem Lebensplan abgeschnitten sind. Das ist die Trauer darüber, dass die einen, deren Leben gerade eben noch gerettet worden ist, für den weiteren Weg ihres Lebens das Bild des Schreckens und des Grauens mit sich tragen müssen, weil ein anderer von ihrer Seite gerissen worden ist. Ein Nächster, eine Mutter, ein Mann, eine Frau, ein Freund und sie auseinander gerissen worden sind.

F: Was ist dann der Zweifel an Gott in diesem Augenblick, wenn Sie das alles vor sich sehen, wenn Sie das alles beschreiben, welche Frage stellen Sie Gott?

H: Ich stelle die Frage danach, wie für Menschen, die das erlebt haben, Hoffnung, Glaube, Liebe wieder entstehen kann.

F: Stellen Sie die Frage nach Ursachen und Wirkungen?

H: Ich stelle die Frage nach Wirkungen, ich stelle die Frage nach Ursachen, aber ich verstehe Gott nicht als ein Uhrwerk, das irgendwann diesen ganzen Prozess ausgelöst hat.

F: Wenn Gott nicht einmal die Macht haben könnte, das Böse im Leben zu korrigieren, müssten wir Menschen doch damit leben, dass das Böse unausrottbar ist.

H: Wir müssen auch damit leben, dass das Böse zu dieser Welt gehören wird bis zum Jüngsten Tag, bis zur Erlösung dieser Welt vom Bösen und die findet nicht heute statt und auch nicht morgen, so sehr wir uns immer wieder darum bemühen im Licht der Nähe Gottes zu uns dem Bösen entgegen zu treten. Aber wir werden nicht eine Welt ohne Böses zustande bringen. Sie ist verheißen, aber wir leben noch nicht in dieser erlösten Welt.

F: Aber wenn wir gerade noch mal, um darauf zurück zu kommen, auch von den Hungernden sprechen, die in der Welt sterben, wenn wir von den Aids-Kranken sprechen, zwei Millionen Tote jedes Jahr, das muss doch alles nicht sein. Wer trägt die Verantwortung für das Unglück? Der Mensch oder Gott, der den Menschen lenkt?

H: Es gibt Unglück, für das trägt der Mensch die Verantwortung. Es gibt Unglück, das aus einem Naturzusammenhang hervorkommt, es gibt unterschiedliche Arten von Unglück. Es gibt einen Gesamtzusammenhang dieser Welt, den wir der schöpferischen Kraft Gottes verdanken, aber diese schöpferische Kraft Gottes - ich jedenfalls deute sie nicht so, dass ich sage, dass jedes einzelne Unglück von ihm gelenkt sei.

F: Viele Menschen sind in dieser Zeit furchtbar hilflos und wissen nicht, was sie machen sollen. Viele spenden. Reicht das?

H: Das Spenden allein reicht nicht, aber die Spendenbereitschaft, die wir jetzt erleben, ist wirklich beeindruckend und ist ein Hoffnungszeichen. Insofern deute ich diese Spendenbereitschaft und die Bereitschaft zu helfen auch nicht als Hilflosigkeit, sondern als einen Impuls in den Menschen, für den ich dankbar bin, den ich als ein Zeichen der Liebe sehe und der vielen Menschen auch Hoffnung gibt.

F: Wie erklären Sie sich dieses Zeichen der Liebe bei dieser Katastrophe und gleichzeitig die Zeichen der Gleichgültigkeit, wenn es zum Beispiel um Armut und Verhungern von Millionen Menschen geht? Wie passt das zusammen?

H: Es gibt unterschiedliche Formen, in denen unsere Aufmerksamkeit gelenkt wird. Die plötzliche Katastrophe zieht mehr Aufmerksamkeit auf sich als der Prozess des großen Unglücks, das wir beispielsweise gegenwärtig im Sudan erleben. Die eigenen Interessen, die sich damit verbinden, die Tatsache, dass es deutsche Touristen, europäische Touristen gewesen sind...

F: Also, wenn es zum Beispiel eine Region wäre, das gab es ja, wo es nicht diesen Tourismus gibt, wo es nicht diese Identifikation gibt: "Da hätte ich auch liegen können", wäre wahrscheinlich die Spendenfreudigkeit nicht so hoch gewesen.

H: Also wir haben das schreckliche Beispiel des Erdbebens in China im Jahre 1976 gehabt mit noch mehr Todesopfern, da ist beides zusammen gekommen. Und China hat gesagt, wir wollen gar nicht, dass andere sich einmischen und wir haben gesagt, das ist doch sehr weit von uns entfernt. Insofern ist der Abstand, den wir manchmal auch zu den Opfern solcher Katastrophen herstellen, mit unserer Vorstellung von der gleichen Würde jedes Menschenlebens und jedes Menschen nur schwer zu vereinbaren.

F: Aber identifizieren wir uns wirklich mit den Menschen vor Ort oder hat uns die Angst eingeholt, da wir ja nun selbst auch millionenfach an solchen Stränden gelegen sind oder liegen könnten, dass wir es hätten sein können, die dort gestorben sind.

H: Es kommt beides zusammen. Viele Menschen kennen diese Region aus eigenem Erleben, obwohl der Anteil der Touristen, die am Indischen Ozean Urlaub machen, verglichen mit anderen noch immer gering ist, aber es ist ganz deutlich zu sehen, dass viele Menschen sich wirklich mit dem Leiden der Bevölkerung identifizieren, anders wäre es gar nicht zu beschreiben, dass diese Hilfen, diese Spenden ein solches Ausmaß annehmen.

F: Ist es eine Sünde, wenn man momentan nicht spendet, nicht hilft?

H: Wenn man einen anderen Weg hat, an anderen Stellen zu helfen, dann hat man eine andere Priorität gesetzt. Aber diejenigen, die gesagt haben - und das wurde ja auch gezeigt -: "Ich kaufe mir den ganzen Arm voller Böller und zu spenden kommt für mich überhaupt nicht in Frage", darin drückt sich eine Kaltherzigkeit aus, die ich unverzeihlich finde.

F: Es gibt bei aller Spendenbereitschaft aber doch sehr, sehr viele Menschen mehr, die nichts tun, die nicht spenden. Sie sagen, das ist kaltherzig.

H: Nein, so generell habe ich das nicht gesagt. Ich habe eine bestimmte Situation geschildert.

F: Also, wer lieber in Feuerwerkskörpern...

H: ...und dabei sagt: Spenden kommt für mich überhaupt nicht in Frage...

F: ...ist kaltherzig...

H: ... der drückt damit eine Unempfindlichkeit gegenüber dem Leiden aus, die ich ganz schwer erträglich finde.

F: Und diejenigen, die zwar keine Feuerwerkskörper gezündet haben und trotzdem nicht helfen, wie beschreiben Sie diese Menschen?

H: Das ist so eine allgemeine Frage. Ich kann nicht allen Menschen ins Herz schauen und eine generelle Beschreibung geben. Ich schaue die jetzige Situation unter dem Gesichtspunkt an, dass sehr, sehr viele Menschen helfen in einer Gesellschaft, von der man behauptet hat, die Kälte hätte in ihr schon längst Einzug gehalten. Und ich sage: Es ist großartig, dass diese Beschreibung unserer Gesellschaft nicht stimmt und meine große Hoffnung ist, dass das auch über diese und die nächste Woche hinaus Spuren hinterlässt.

F: Sind denn die Touristen, die jetzt Seite an Seite mit den noch nicht geborgenen Leichen ihren Urlaub fortsetzen, kaltherzig?

H: Ich kann nur ganz schwer nachvollziehen, was in manchen dieser Menschen vorgeht.

F: Sind Sie der Meinung, dass diese Touristen zurückreisen müssten?

H: Ich bin der Meinung, sie müssten entweder zurückreisen oder sich auf eine geeignete Weise beteiligen an der Hilfe für die Opfer, aber sich nicht neben die Opfer an den Strand legen.

F: Sie haben von der Langfristigkeit der Hilfe gesprochen. Glauben Sie, dass diese Langfristigkeit erreichbar ist, wenn man offenen Auges sieht, wie letztendlich gerade die Ärmsten dieser Regionen, in Sri Lanka und andeswo, bisher mit Gleichgültigkeit betrachtet wurden. Glauben Sie, dass diese Gleichgültigkeit gegen diese Regionen durch diese Katastrophe aufgehoben ist und dass diese Regionen im Bewusstsein, im Herzen der Menschen zukünftig näher dran sind?

H: Wir sind ja vorhin schon auf den Punkt gekommen, dass wir uns deutlich gemacht haben, wie stark in dieser Mediengesellschaft unsere Fähigkeit und Bereitschaft Situationen wahrzunehmen auch durch die Medien gesteuert wird. Und deswegen will ich mal die Frage stellen, ob es wohl denkbar ist, dass in unseren Medien die Aufmerksamkeit für diese Regionen länger bleibt.

F: Aber die Medien haben vor dieser Katastrophe keine große Aufmerksamkeit gehabt so wie die Menschen, woher nehmen Sie den Glauben, dass es danach besser wird?

H: Daraus, dass Sie und ich, wir, dazu beitragen, dass auch in einem viertel oder in einem halben Jahr Menschen sich noch für diese Regionen interessieren, dass Sie und ich jeweils an unserem Ort, uns dafür einsetzen, dass das passiert. Die Voraussetzungen dafür sind günstig, denn der Ansatzpunkt bei der jetzigen Spendenbereitschaft, bei den Entscheidungen der Bundesregierung von dieser Woche, ist schon so, dass der Grundstock für eine längerfristige Hilfe gelegt ist. Die Organisationen, die jetzt Spenden entgegen nehmen, können das überhaupt nur verantworten, wenn sie ein langfristiges Konzept haben.

F: Bischof Huber, ich bedanke mich ganz herzlich für dieses Gespräch. Meine Damen und Herren, nächste Woche schalten Sie bitte ein, donnerstags Studio Friedman. Ich freu' mich drauf.


Die Rechte an der Sendung liegen bei N 24, Abschrift durch Kirchenamt der EKD