Patriotismusbegriff in der gegenwärtigen Debatte "ziemlich unglücklich"

SWR-Interview mit dem EKD-Ratsvorsitzenden, Bischof Wolfgang Huber

10. Dezember 2004


Südwestrundfunk - SWR2 Tagesgespräch
Sendung: Freitag, 10.12.2004, 7.14 bis 7.20 Uhr
Rudolf Geissler im Gespräch mit Bischof Wolfgang Huber, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland

Baden-Baden:

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, hält den Patriotismusbegriff in der gegenwärtigen Debatte um das gesellschaftliche Zusammenleben für „ziemlich unglücklich“. Im Südwestrundfunk (SWR) sagte Huber, er rate zu überlegen, was „die Rede von Patriotismus“ beispielsweise für die Millionen von Türken in Deutschland bedeute, von denen „wir die gleichen Integrationsleistungen und Bemühungen erwarten müssen, wie wir sie auch von Deutschen in diesem Land erwarten“. Auch zu Begründung für einen Verzicht auf Sozialleistungen sei Patriotismus weniger einleuchtend als das Argument, „um der nächsten Generation Willen“ sich selbst zu beschränken, sagte Huber. Die Kirchen müssten in der Debatte klar machen, dass es „nicht so sehr vaterländische Werte sind, sondern christliche Werte sind, die Werte der Nächstenliebe, der Solidarität, der Achtung vor dem gleichen Recht des anderen“, auf die es jetzt ankomme.

Wortlaut des Live-Gesprächs:

Rudolf Geissler: Vor ziemlich genau einem Jahr, in der Diskussion um die Hohmann-Affäre haben Sie gesagt: wenn von Patriotismus die Rede sei, müsse das vor allem bedeuten, dass die Menschen gewillt seien, etwas für die Zukunft des Landes zu tun. Das klingt nun ganz ähnlich wie der Tenor der jüngsten Parteitagsinitiative der CDU. Erkennen Sie sich in dem wieder, was da jetzt angestoßen wurde?

Bischof Wolfgang Huber: Ich nehme das mit Respekt wahr, was da angestoßen ist. Ich glaube, wir sind in einer Zeit, in der der Bedarf daran wächst, dass wir uns über grundlegende Werte und Ziele des gesellschaftlichen Zusammenlebens verständigen. Da ist der Begriff des Patriotismus sicher nur begrenzt leistungsfähig. Es kommt vor allem auf die Sache, auf die Inhalte an, und wir brauchen eine stärker inhaltliche Debatte in unserem Land.

Inwiefern gibt es einen Bedarf, einen Auffrischungsbedarf an Patriotismus in Deutschland?

Es gibt einen Bedarf an Zukunftsgewissheit in Deutschland. Wir merken an vielen Stellen, dass Verzagtheit sich breit gemacht hat in diesem Land. Und es gibt einen Bedarf daran, dass wir die gemeinsamen Grundwerte des Zusammenlebens verstärkt ins Bewusstsein heben. Wir leben in einer pluralen Gesellschaft, wir müssen Pluralität gestalten, und das gelingt nur, wenn das gemeinsame, das Verbindende deutlicher bewusst wird. Das ist uns ja gerade in den letzten Wochen ganz deutlich vor Augen getreten.

Kritiker der gegenwärtigen Patriotismusdebatte verweisen auf die Vorfälle bei der Bundeswehr, die ja nicht von einem Mangel an Vaterlandsliebe künden, sondern eher von mangelhafter Verfassungstreue. Andere sagen, die Deutschen sollten gerade im erweiterten Europa lieber zu mehr europäischem Geist angehalten werden. Ist ausgerechnet also in dieser Zeit mehr patriotischer Geist das, was wir unbedingt brauchen?

Den Ausdruck Patriotismus halte ich für ziemlich unglücklich und manche mögen auch eher fehlgeleitet werden durch Patriotismus, obwohl das Wort ja ursprünglich bedeutet, dass jemand sein eigenes Vaterland genauso achtet, wie er die Vaterländer anderer achtet. Patriotismus in einem vernünftigen Sinn unterscheidet sich ja von Nationalismus dadurch, dass es gerade nicht eine Vaterlandsliebe ist, die andere herabsetzt. Aber richtig ist: das worauf es jetzt eigentlich ankommt ist, dass wir genau die selben Grundwerte des Zusammenlebens, die Achtung vor der Würde des anderen, den Respekt für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, den Verzicht auf Gewalt im Umgang mit Menschen hochhalten, der für Deutsche, für Franzosen, für Engländer, für andere in gleicher Weise gilt. Also diese universalen Werte, die gerade nicht an ein Land, nicht an ein Vaterland gebunden sind, diese universalen Werte sind eigentlich das ganz und gar entscheidende. Und es verbindet sich damit, dass Menschen bereit und in der Lage sind, sich zu verständigen in der Sprache die in einem Land gilt. Das ist aber auch keinen Vorrang des Deutschen vor anderen Sprachen, es gilt genauso, dass man in Frankreich französisch reden muss, wie man in Deutschland deutsch reden muss. Also herabstimmen, das Wort Patriotismus ist dabei schon richtig.

Ole von Beust, der Hamburger CDU-Bürgermeister bringt einen ganz anderen, pragmatischen Ansatz ins Gespräch. Er sagt: diese derzeitige Patriotismuskampagne sei wichtig, ausdrücklich wichtig, weil sonst für alle die Bürger, die wegen der Haushaltslage Verzicht üben müssten, das überrangige Ziel fehle – so seine wörtliche Formulierung. Ist das ein Ansatz, den Sie unterstützen?

Die Vorstellung: Verzicht aus Patriotismus leuchtet mir auch wieder nicht so ganz ein. Ich sage mehr: Selbstbeschränkung um der nächsten Generation Willen. Wir müssen jetzt einsehen, dass wir nur das verbrauchen können, was wir auch gegenüber der nächsten Generation verantworten können. Und im übrigen gilt das für Menschen, für die Deutschland das Vaterland von ihrer eigenen Herkunft her ist, genauso wie für Menschen, die als ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, für Menschen, die mit Migrationshintergrund zu uns kommen. Auch die haben an dieser selben Verantwortung teil, so dass ich bei der Patriotismusdebatte auch dazu rate, mal zu überlegen, was bedeutet die Rede von Patriotismus für die Millionen von Türken, die langfristig bei uns leben wollen, und von denen wir die gleichen Integrationsleistungen und –Bemühungen erwarten müssen, wie wir sie auch von Deutschen in diesem Land erwarten.

Heißt das: Sie sehen auch eine potentielle Gefahr dahingehend, dass – sagen wir – die Entrüstung über soziale Zumutungen umgelenkt werden könnte in einen falsch verstandenen Patriotismus?

Also die Gefahr ist ja offenkundig. Ich werte deswegen den Begriff des Patriotismus nicht ab, aber ich warne davor, ihn im Blick auf die gegenwärtigen Schwierigkeiten, die wir miteinander bestehen müssen, zu überfrachten und zu überlasten.

Was können die christlichen Kirchen tun, um dafür zu sorgen, dass das alles nicht kippt, wenn es mit den Zumutungen, was sich ja abzeichnet, weitergeht?

Daran erinnern, dass diejenigen Werte, die jetzt wirklich wichtig sind, nicht so sehr vaterländische Werte sind, sondern christliche Werte sind, die Werte der Nächstenliebe, der Solidarität, der Achtung vor dem gleichen Recht des anderen – das sind die Werte, auf die es jetzt ankommt.

Die Menschen haben Angst um ihren Arbeitsplatz, um die Zukunft, fühlen sich vielfach anonymen ökonomischen Mächten ausgeliefert, sie suchen Halt – haben Zeiten wie diese eigentlich früher nicht eher für eine Hinwendung zu Kirche und Religion gesorgt? Warum ist es heute nicht so?

Wir haben eine ziemlich aufregende Entwicklung im Augenblick, dass viele Menschen neu nach einem Halt für ihr Leben fragen, der über das hinausreicht, was sie selber sich sagen und selber bewirken können. Das artikuliert sich auf eine bisschen andere Weise als das vor Jahrhunderten der Fall gewesen ist. Aber, dass es eine neue Sinnsuche, auch eine neue Frage nach Religion, auch in dieser angeblich so säkularisierten Gesellschaft gibt, das kann man im Augenblick spüren. Das ist verhaltener als in anderen Ländern, es wird auch hoffentlich auf Dauer nicht so Fundamentalistisch daher kommen, wie man das anderswo beobachten kann. Aber es ist da, und wir sind als Kirchen herausgefordert, darauf zu antworten.

Quelle: SWR vom 10. Dezember 2004