Delegationsreise des Rates der EKD nach China vom 4. bis 17. Oktober 2004

Tagebuchnotizen von Hermann Gröhe

16. November 2004


Vom 4. bis 17. Oktober 2004 fand zum dritten Mal – nach 1985 und 1998 – eine Reise des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland in die VR China statt. Begonnen hatten diese kirchlichen Kontakte nach Beendigung der Kulturrevolution im Jahr 1982 mit einem Besuch von Vertretern des chinesischen Protestantismus in Deutschland. In den letzten Jahren intensivierten sich die Arbeitskontakte deutscher evangelischer Hilfs- und Missionswerke mit chinesischen Kirchen- und Regierungsvertretern.

Geleitet wurde die jüngste EKD-Ratsdelegation durch den Vorsitzenden des Rates der EKD, Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber. Als weitere Ratsmitglieder nahmen an dieser Reise die Präsidentin der Badischen Landessynode, Margit Fleckenstein, sowie Hermann Gröhe teil.

Begleitet wurden die EKD-Ratmitglieder durch Auslandsbischof Rolf Koppe, Vertreter des Evangelischen Entwicklungsdienstes, des Evangelischen Missionswerkes und des EKD-Kirchenamtes sowie einen Sinologen und eine Journalistin.

Im Mittelpunkt der Gespräche standen die Situation der Christen und die Beziehungen zwischen dem Staat und den Kirchen in China, die  Verwirklichung der Religionsfreiheit und die Möglichkeiten kirchlicher Sozial- und Entwicklungszusammenarbeit.

Hermann Gröhe, der als Sprecher der Unionsfraktion dem Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages angehört, stellte dem "RHEINISCHEN MERKUR" Auszüge aus seinem Reisetagebuch zur Verfügung.
(nachfolgend die Langfassung des Berichts)


5. Oktober


Ankunft in Hongkong. Zwei Tage in der "Sonderverwaltungsregion Hongkong" sollen uns die Gelegenheit geben, die aktuelle politische und kirchliche Situation vor Ort kennen zu lernen, aber auch Gespräche zu führen, die in "Mainland China" nicht möglich sind.

Im Gespräch mit dem Hongkong Christian Council, seinem Vorsitzenden Bischof Dr. Thomas Soo, Generalsekretär Eric S.Y. So und Metropolit Nikitas Lulias, erfahren wir viel über den ganz erheblichen Beitrag, den die christlichen Kirchen in Hongkong zum sozialen Netz in der Stadt sowie im Bildungsbereich leisten. Auch die evangelische Gemeinde deutscher Sprache ist Mitglied des Hongkong Christian Council, der in diesem Jahr sein 50-jähriges Bestehen feiert und dem die wichtigsten christlichen Kirchen – außer der Römisch-Katholischen Kirche – angehören.

Besonders eindrucksvoll ist die Begegnung mit dem Direktor der Asian Human Rights Commission, Basil Fernando, und seinen Mitarbeitern. Der VR China bescheinigen die engagierten Menschenrechtler durchaus Fortschritte im Menschenrechtsbereich, während anderenorts in Asien rechtsstaatliche Strukturen zusammengebrochen seien. Das Hauptproblem in der VR China sei allerdings die Tatsache, dass eine Unabhängigkeit der Justiz nicht gegeben sei. Vielmehr orientiere sich die Rechtsprechung an den Weisungen der Kommunistischen Partei Chinas. Obwohl man sich um die Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns, die "Rule by law", bemühe, sei man von einer rechtsstaatlichen "Rule of law" noch weit entfernt. Dramatisch sei die hohe Zahl der Hinrichtungen in China.

Ein abendlicher Empfang in der Residenz des deutschen Generalkonsuls gibt die Möglichkeit, etwas über die jüngste politische Entwicklung in Hongkong zu erfahren, aber auch Mitglieder der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde kennen zu lernen. Generalkonsul Dr. Heinrich Wilhelm Beuth schildert die Massendemonstrationen der Demokratiebewegung, die auf eine Wahlrechtsreform zielten.

6. Oktober

In einer Begegnung mit Dr. Patrick Ho, dem "Secretary of Home Affairs" Hongkongs, können Bischof Wolfgang Huber, der EKD-Auslandsbischof Koppe und ich feststellen, dass das gesellschaftliche Engagement der Kirchen hohe Wertschätzung bei den Regierenden in Hongkong erfährt. Zugleich können wir Forderungen der Demokratiebewegung in Hongkong zur Sprache bringen, die auf eine Überwindung "ständestaatlicher Elemente" im Wahlsystem Hongkongs zielen. Denn bislang wird lediglich die Hälfte der Mitglieder im Parlament von Hongkong in allgemeinen Wahlen bestimmt; die andere Hälfte wird von einzelnen Berufsgruppen gewählt. Patrick Ho hört unsere in Frageform vorgebrachte Kritik mit einem freundlichen Lächeln an. Seine Entgegnung fasst er in die Worte zusammen: "Demokratie ist doch kein Ziel, kein Zustand, den man erreicht, sondern ein Weg, eine Richtung, die man einschlägt" . Auch eine Art, konkrete Fragen nicht zu beantworten.

Gespräch mit der Christian Conference of Asia (CCA)

CCA-Generalsekretär Dr. Jae-Woong Ahn erläutert die Aufgaben der CCA, dem Zusammenschluss von 102 Kirchen und 15 nationalen Kirchenräten mit insgesamt 55 Millionen Mitgliedern in ganz Asien. Bislang gehöre der China Christian Council (CCC) nicht dem CCA an, da die Presbyterianische Kirche von Taiwan zum CCA gehört. Auch die starken und schnell wachsenden evangelikalen Kirchen Asiens gehören nicht zum CCA, sondern seien in der Evangelical Fellowship zusammengefasst, die ihren Sitz in Colombo, Sri Lanka, habe. Nicht nur mich enttäuscht die Antwort von CCA-Generalsekretär Ahn, man werde im Hinblick auf Menschenrechtsverletzungen in einem bestimmten Land nur auf Veranlassung oder mit Zustimmung der jeweiligen Mitgliedskirche tätig. Sehr engagiert klingt das nicht.

"Zufallsbegegnung"

Wir treffen Herrn W.; ein skandinavischer Kollege von mir hat den Kontakt zu diesem Vertreter der "Hauskirchenbewegung" in China hergestellt. Selbstbewusstsein, sehr gute Englischkenntnisse und eine missionarische Begeisterung, die manchem in unserer Delegation wohl zu weit geht, kennzeichnen unseren Gesprächspartner. Er schildert die Lage der Hauskirchen in China als "Semi-Freiheit". Vielerorts seien die Treffen der nicht-registrierten Hauskirchen den staatlichen Behörden bekannt. Es gebe Kontakte zu registrierten Gemeinden, der so genannten "Drei-Selbst-Bewegung", dem staatlich anerkannten und mit staatlichen Behörden kooperierenden Protestantismus in China. Die staatliche Duldung ihres Tuns reiche den Hauskirchen aber nicht aus. Sie hätten einen Anspruch auf Rechtssicherheit, auf die Achtung der Religionsfreiheit ihrer Mitglieder und Kirchen. Gleichwohl nutze man dankbar die erweiterten Freiräume, organisiere eigene Bibelschulen und sende Missionare in die verschiedenen Provinzen des Landes. Eine interessante Begegnung, bei der freilich viele Fragen offen bleiben. Wir wissen zu wenig über diese Hauskirchenbewegung und müssen uns daher um mehr Kontakte bemühen. Die Forderung des Hauskirchenvertreters nach Rechtssicherheit ist nur allzu verständlich. Zugleich wird ein ungefährdeter "Schritt in die Öffentlichkeit" auch der Hauskirchenbewegung selbst gut tun, "sektiererischen Ausfransungen", über die immer wieder berichtet wird, entgegenwirken.

Dschunkenfahrt mit Mitgliedern der Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache in Hongkong. Besonders das freundliche und sehr engagierte Pfarrerehepaar beeindruckt mich. Sie machen hier fern der Heimat viele Erfahrungen, die ihnen nach ihrer Rückkehr nach Deutschland in einer neuen Aufgabe von großem Nutzen sein können.

7. Oktober

Weiterflug nach Peking

Besuch der "verbotenen Stadt". Die weitläufigen Palastanlagen des chinesischen Kaiserhauses sind imponierend. Die Herrschaft der chinesischen Kaiser und ihrer konfuzianisch geprägten Beamtenschaft kannte keine Staatsreligion; dieser Staat selbst war die Religion. Diese Erläuterung des uns begleitenden Sinologen, Professor Michael Lackner aus Erlangen, machen mir deutlich, dass der "bürokratische Zentralismus" der chinesischen KP seine Wurzeln nicht nur in den Theorien des Deutschen Karl Marx, sondern auch in alten chinesischen Herrschaftstraditionen hat.

Beim Abendessen in der Residenz des deutschen Gesandten Friedrich Löhr kommt es zu einer interessanten Begegnung mit Herrn Qiutian Lu. Der ehemalige chinesische Botschafter in Deutschland ist heute Präsident des Volksinstituts für auswärtige Beziehungen. Er spricht offen über eine "Orientierungskrise" in der chinesischen Gesellschaft, wichtige Beiträge, die die Religionsgemeinschaften in dieser Situation leisten könnten, und fragt danach, ob wir als Christen denn – wie sie als Kommunisten – an die "Schaffung eines neuen Menschen" glaubten. Weiterführenden Fragen unsererseits zu Fragen der Religionsfreiheit in seinem Lande weicht er zumeist mit umfangreichen Gegenfragen aus. Da er wiederholt den deutsch-chinesischen Rechtsstaatsdialog lobt, machen wir in diesem Gespräch – und damit auch dem deutschen Gesandten gegenüber – deutlich, dass es unseres Erachtens notwendig wäre, Fragen der Religionsfreiheit und des Staatskirchenrechts sowie der rechtlichen Bedingungen für ein soziales Engagement der Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Rechtsstaatsdialog aufzunehmen. Bischof Wolfgang Huber nimmt sich vor, dies unmittelbar gegenüber Justizministerin Zypries anzusprechen.

8. Oktober

Besichtigung der "Großen Mauer"

Das gewaltige, aufwendig restaurierte Befestigungswerk ist wahrlich sehenswert. Zugleich nimmt es heute ganz offensichtlich in der "patriotischen Erziehung" des chinesischen Volkes einen wichtigen Platz ein, wie die vielen organisierten Besuchergruppen zeigen. Überhaupt reden die Regierenden in China, auch die Vertreter, mit denen wir sprechen können, weit häufiger vom "Patriotismus" als vom "Sozialismus". In den Zeitungen, so erfahren wir, wird immer aggressiver über eine militärische Aktion gegen Taiwan "nachgedacht". In der Tat  kein geeigneter Zeitpunkt, um über eine Aufhebung des Waffenembargos der Europäischen Union gegenüber der VR China nachzudenken.

In der "Großen Halle des Volkes" am "Tienanmen-Platz" treffen wir Vertreter der nationalen Religionsbehörde, angeführt durch Vizeminister Zuoan Wang. Bei einem Mittagessen werden in sehr freundlicher Atmosphäre wichtige Fragen der Religionsfreiheit in China sehr offen angesprochen. Dazu gehören die Modalitäten der Registrierung von religiösen Gruppen, aber auch die Möglichkeit der muttersprachlichen Seelsorge und Gottesdienste für Ausländer, die in China leben und arbeiten. Unsere Delegation macht deutlich, dass wir die gewachsene Toleranz gegenüber religiösen Aktivitäten begrüßen, sie aber noch für unzureichend halten. Menschenrechtlich geboten sei der Respekt vor der Religionsfreiheit der Gläubigen. Mein Eindruck ist, dass die chinesische Religionspolitik viele Aktivitäten der Religionsgemeinschaften durchaus positiv sieht. Allerdings will man das freimütig eingeräumte Anwachsen der christlichen Kirchen nicht nur fördern, sondern gleichzeitig auch kontrollieren.

Während sich unsere Delegation zu einem Gespräch mit dem Kirchenvorstand der deutschsprachigen Gemeinde in Peking trifft, treffe ich mich mit dem neuen deutschen Botschafter in Peking, Dr. Volker Stanzel. Wir kennen uns aus vielen Begegnungen im Menschenrechtsausschuss und können daher gleich „zur Sache kommen".

Abendessen mit der „Einheitsfront-Abteilung“

Die „Einheitsfront-Abteilung“  ist die Abteilung der Kommunistischen Partei Chinas, die für die Pflege und Gestaltung der Beziehungen der Partei zu den nichtkommunistischen gesellschaftlichen Gruppen verantwortlich ist. Dazu gehören die verschiedenen religiösen Gruppen. Erneut gibt es ein opulentes Mahl – auch Ausdruck des Danks für erwiesene Gastfreundschaft in Deutschland – und den Austausch von Geschenken. In der chinesischen Kultur haben solche Zeichen der Gastfreundschaft eine hohe Bedeutung. "Freunde zu gewinnen" ist dabei ganz offensichtlich das Ziel. Solche Gastfreundschaft kann man dankbar annehmen und genießen, ohne ihren Zweck zu übersehen.

9. Oktober

Gespräch mit dem Beijing Christian Council und der örtlichen "Drei-Selbst-Bewegung". Unsere Gesprächspartner berichten über die Situation der Kirchen in Peking. Für die ca. 40.000 Mitglieder der im "Christian Council" zusammengeschlossenen registrierten Gemeinden gibt es in Peking nur neun Kirchengebäude, in denen sonntäglich bis zu vier Gottesdienste stattfinden. Zurzeit werden zwei sehr große neue Kirchen in Peking gebaut. Außerdem versammeln sich Christen noch an 700 Treffpunkten ("meeting points") als Hausgemeinden. Dort scheint es zunehmend einen fließenden Übergang zwischen den registrierten und den nicht-registrierten Gemeinden zu geben. So erhielten viele Christinnen und Christen, die zu nicht-registrierten Hauskirchen gehörten, in registrierten Gemeinden Bibeln und religiöse Literatur.

Fragen unsererseits, ob eine öffentliche Werbung für religiöse Aktivitäten möglich sei, werden mit dem Hinweis darauf beantwortet, dass die kirchlichen Veranstaltungen auch ohne derartige Werbung immer überfüllt seien. Zu Jugendarbeit in den Gemeinden kämen nicht nur Jugendliche und junge Erwachsene aus christlichen Familien, sondern auch beispielsweise Studentinnen und Studenten, deren Interesse am christlichen Glauben im Geschichtsstudium entstanden sei.

Besichtigung eines buddhistischen Tempels in Peking

Die buddhistische  Priester- und Mönchsreligion kennt keine einfachen Gemeindemitglieder. Beim Besuch des Tempels wird aber deutlich, dass hierher nicht nur Touristinnen und Touristen kommen. Viele, auch junge Leute, beten, meditieren, zünden Räucherstäbchen an.

Beim Abendessen in der Zentrale der „Einheitsfront-Abteilung“ hebt deren Leiter, Vizeminister Weigun Zhu, zwar den positiven Beitrag der Religionsgemeinschaften zur Entwicklung in China hervor, lässt aber keinen Zweifel daran, dass die KP sich mit einem klaren Bekenntnis zum Atheismus von jeder religiösen Überzeugung prinzipiell unterscheidet. 

10. Oktober

Wir nehmen am Sonntagsgottesdienst in der Pekinger Chongwenmen-Kirche teil. Bischof Wolfgang Huber predigt auf Deutsch mit chinesischer Übersetzung. So wird ein historisches Ereignis möglich, da erstmalig auch ca. 20 Mitglieder der deutschsprachigen Gemeinde in Peking an diesem chinesischen Gottesdienst teilnehmen. Obwohl dieser Sonntag kein arbeitsfreier Tag ist, ist der Gottesdienst am Morgen um 8 Uhr überfüllt. Die Chorgewänder und viel angelsächsisches Liedgut im Gesangbuch weisen auf die Einflüsse aus der anglikanischen Tradition und aus den USA hin.



Wir alle bedauern, dass nach dem Gottesdienst nur sehr wenig Zeit bleibt, mit den deutschen und chinesischen Gottesdienstbesuchern zu sprechen. Leider nehmen weder der deutsche Botschafter noch der Gesandte am Gottesdienst teil, obwohl ihnen unser Besuchsprogramm bekannt ist. Ich bin sicher, dass unsere chinesischen Begleiter so etwas aufmerksam registrieren. Daher ärgere mich über mich selbst, hätte ich doch den Botschafter bei unserer  Begegnung persönlich einladen können.

Flug nach Guiyang und Weiterfahrt mit dem Bus nach Puding in der Provinz Guizhou

Auf der Busfahrt erläutert Dr. Konrad von Bonin, Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Entwicklungsdienstes, die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit der Amity-Stiftung. Diese Nichtregierungsorganisation, von chinesischen Christen 1985 gegründet, arbeitet eng mit dem China Christian Council zusammen. Schwerpunkte der Arbeit der Stiftung sind die ländliche Entwicklung, Bildung, soziale Projekte, Gesundheit und Blindenarbeit. Die Amity-Stiftung arbeitet eng mit staatlichen Stellen zusammen, die ganz offensichtlich froh darüber sind, dass eine von Christen geprägte Stiftung sich um lange geleugnete Probleme, wie die wachsende Zahl der Aids-Kranken, kümmert. Unser Hotel in Puding – die Provinz Guizhou im Südwesten Chinas gehört zu den ärmsten Gegenden Chinas – ist "eher rustikal". Kurz vor dem gemeinsamen Abendessen gibt es in den meisten Badezimmern für eine kurze Zeit fließendes Wasser.

11. Oktober

Mit dem Bus geht es zwei Stunden durch eine faszinierende Hügellandschaft in das Dorf Dadi. Mehrmals müssen wir aus dem Bus aussteigen, da er nur unbeladen mit der Schotterstraße fertig wird. Diese unfreiwilligen Pausen geben die Gelegenheit, die gute frische Luft zu genießen. Der Vergleich lässt die hohe Luftverschmutzung in Peking erahnen. Schließlich geht es nur noch im Landrover weiter.

Im Dorf Dadi erläutern uns Vertreter der Amity-Stiftung den vom Evangelischen Entwicklungsdienst geförderten Bau von Terrassen auf den an den Berghängen gelegenen Reisfeldern. Diese Terrassen verhindern Auswaschungen und die Erosion der Böden, sichern so dauerhafte Ernteerträge. Im Dorf stoßen wir auf eine Feier der Dorfgemeinschaft. Ein neues Haus wird eingeweiht. Alle sind gekommen und nehmen an einem Mittagessen teil, das aus großen Schüsseln und Töpfen gereicht wird. Dankbar weisen die Bauern auf die Erfolge des Terrassenbaus hin.

Weiter geht es in das Dorf Xianma. In diesem Dorf leben ausschließlich Angehörige der Miao-Minderheit. Die allermeisten Menschen in dem kleinen Dorf sind Christen, blieben dies auch in den Jahren der Kulturrevolution.

Uns begrüßt der Chor der evangelischen Gemeinde des Ortes. In traditionellen Trachten singen sie zunächst einige chinesische Kirchenlieder. Dann erklingt in gut 1500 Metern Höhe, in diesem armen Bauerndorf das "Halleluja" aus Händels Messias. Unsere Delegation ist sehr bewegt. Wir antworten mit einigen deutschen Kirchenliedern: Lobet den Herrn! Dann erzählen die Frauen des Ortes stolz von den Erfolgen eines Kleinkredit-Programmes, das sich gezielt an Frauen richtet und ihnen eine bescheidene Tieraufzucht ermöglicht. Auch dieses Projekt der Amity-Stiftung wird vom Evangelischen Entwicklungsdienst unterstützt. Ratsmitglied Margit Fleckenstein trifft genau den richtigen Ton, als sie den Frauen zu dem Erreichten gratuliert und ihnen weiterhin viel Erfolg wünscht.

12. Oktober

Weiterflug nach Nanjing

Unser erster Besuch in Nanjing gilt der bekannten Druckerei der Amity-Stiftung, in der seit 1988 im großen Stil Bibeln gedruckt werden. Über 35 Mio. Bibeln sind seitdem in verschiedenen chinesischen oder zweisprachigen Ausgaben für den Bedarf in China gedruckt worden. Diese Bibeln werden in China nicht im Buchhandel verkauft, sondern durch ein kircheneigenes Vertriebssystem ausgeliefert, verkauft bzw. verteilt.

Die leistungsstarke Druckerei hat ganz wesentlich dazu beigetragen, dass es heute in China kaum mehr ein Problem ist, eine Bibel zu erhalten. Wie anders war das doch über viele Jahrzehnte! Ein Geistlicher schildert uns seine Erlebnisse in der Kulturrevolution. Die Rotgardisten hatten ihnen die Bibeln weggenommen. Und bei Treffen im kleinen Kreis verzichtete man auf das Singen von Liedern, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Auswendig trug man einander die jeweiligen Lieblingsstellen aus der Heiligen Schrift vor.


13. Oktober

Besuch des Nanjing Union Seminary

Das Theologische Seminar in Nanjing ist die einzige theologische Ausbildungsstätte der Protestanten in China, die eine sechsjährige Ausbildung anbietet. Darüber hinaus gibt es fünf Regionalseminare für mehrere Provinzen und zwölf Seminare auf Provinzebene, die kürzere Ausbildungsgänge anbieten, sowie einige Bibelschulen.

In dem Gespräch über das Verhältnis von Staat und Religion in China sind nicht die anwesenden theologischen Dozenten und Kirchenvertreter die bestimmenden Gesprächspartner, sondern der stellvertretende Direktor der Religionsbehörde auf Provinzebene. Frau Dr. Hansen-Dix, die Präsidentin des Kirchenamtes der Nordelbischen Landeskirche, legt das Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland dar. Nach Rückfragen zur Situation in Deutschland geht es jedoch vor allem um die Lage in China, insbesondere um die Bedingungen für die Registrierung von christlichen Gemeinden. Ich widerspreche ausdrücklich der Erklärung unserer Gesprächspartner, in China gebe es keine Staatsreligion. Wo die entscheidende politische Partizipationsmöglichkeit an die Mitgliedschaft in einer Partei geknüpft sei, die Gläubige der verschiedenen Religionen aus ihrem Selbstverständnis heraus nicht als Mitglieder aufnehmen könne, sei faktisch der Atheismus Staatsreligion. Dem widersprechen die Vertreter der „Einheitsfront-Abteilung“, die auf ihre Aufgabe hinweisen, auch die Angehörigen der verschiedenen Religionen an der politischen Gestaltung unter Führung der KP Chinas zu beteiligen. Bischof Koppe schildert seinen Eindruck, dass die KP die Angehörigen der registrierten Religionen allenfalls wie jüngere Geschwister behandele, die man nicht erwachsen werden lassen will. Als Bischof Wolfgang Huber zusammenfassend erläutert, warum aus unserer Sicht eine gleichberechtigte Teilhabe von Gläubigen und Nichtgläubigen an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens erforderlich sei, hält es den Vizedirektor der Religionsbehörde kaum auf seinem Platz. Immer wieder unterbricht er die Übersetzung der Worte unseres Ratsvorsitzenden; seine Stimme wird immer lauter. Nach diesem hitzigen Gespräch geben uns auch unsere überaus freundlichen Begleiter von CCC und Amity-Stiftung zu verstehen, dass sie unser Auftreten „zu forsch“ finden.  Dieses Echo löst intensive Gespräche in unserer Delegation aus. Menschliche Nähe zu den wichtigsten Partnern ist für eine solche Arbeit  sicherlich nützlich, mitunter aber auch mit der Gefahr von Vereinnahmungsversuchen verbunden. Ich bleibe dabei, dass es richtig ist, unsere Ansichten höflich, aber unmissverständlich vorzutragen. Mich beeindruckt die große Klarheit, mit der Bischof Wolfgang Huber immer wieder Religionsfreiheit und Respekt vor den Menschenrechten insgesamt einfordert.

Besichtigung und Kranzniederlegung in der Gedenkstätte für das Nanjing-Massaker

Eine eindrucksvolle, erst vor einigen Jahren errichtete Gedenkstätte erinnert an das Massaker, das japanische Besatzungstruppen von Dezember 1937 bis Februar 1938 nach der Eroberung der Stadt Nanjing an der Zivilbevölkerung verübten.

In verschiedenen Gesprächen wird immer wieder deutlich, wie sehr das Verhältnis Chinas zu Japan – beispielsweise aber auch Koreas zu Japan – davon belastet ist, dass sich das offizielle Japan bis heute kaum mit den Verbrechen des Landes während des Zweiten Weltkrieges auseinandergesetzt hat.

Gespräch mit Bischof K.H. Ting

Der 89-jährige Bischof Ting ist die große Symbolfigur des staatlich anerkannten Protestantismus in China. 1948 hat er bereits an der Gründungsversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen in Amsterdam teilgenommen. Später wurde er zum anglikanischen Bischof geweiht. Bischof Ting betont, er sei in Theologie und Politik stets "ein Liberaler" gewesen; niemals habe er einer Partei angehört. Indirekt nimmt er damit zu Gerüchten Stellung, er sei zumindest zeitweise Mitglied der KP Chinas gewesen. Er steht für einen staatlich anerkannten Protestantismus, der die politische Vorherrschaft der KP Chinas und damit auch eine weitgehende staatliche Kontrolle kirchlichen Handelns akzeptiert hat, der aber mit dieser Haltung nach der Kulturrevolution auch eine beachtliche Duldung kirchlicher Aktivitäten und die damit verbundenen Möglichkeiten eines ganz erheblichen Gemeindewachstums erreichen konnte. Welchen Zwängen er dabei ausgesetzt war, wer von uns mag dies beurteilen. Welche "Preise gezahlt“ wurden, das mag eines Tages erst eine Offenlegung der Akten zeigen.

Im Gespräch mit Bischof Ting erfahren wir, dass die führenden Vertreter des China Christian Council und der "Drei-Selbst-Bewegung" übereingekommen sind, genuin kirchliche Strukturen auszubilden. Hierzu soll als erster Schritt die Schaffung von Bischofsämtern gehören. Dabei sollen diese Bischöfe nicht regional begrenzte Bistümer leiten, aber die episkopale Aufgabe der Ordination der Pfarrerinnen und Pfarrer übernehmen.

Unserem intensiven Gespräch mit Bischof Ting schließt sich ein festliches Abendessen mit ihm und weiteren Kirchenvertretern an. Im Rahmen des Abendessens schildert uns der christliche Psychologe Xue Fu Wang seine Arbeit in einem Beratungszentrum in Nanjing und am theologischen Seminar, aber auch seine Verantwortung für eine TV-Sendung, bei der von psychologischen Beratern Einzelfälle besprochen werden. Er berichtet über den Aufbau einer Telefonseelsorge, die in Shanghai bereits 40 Mitarbeitende hat. Auch der Staat sehe einen erheblichen Bedarf an psychologischer Beratung und sei bereit, hier der Kirche neue Betätigungsfelder zu öffnen.

14. Oktober

Abfahrt in das Modelldorf Huaxi

Das "Modelldorf" ist längst eine prosperierende kleinere Industriestadt geworden. Schmucke Häuser sollen zeigen, wie man einst überall in China leben soll. Man sieht Nachbauten eines Teils der "Großen Mauer", eines einzelnen Gebäudes aus der Kaiserpalastanlage in Peking, aber auch ein dem Opernhaus von Sydney in Australien nachempfundenes Gebäude. Vieles wirkt fragwürdig und auch kitschig in dieser Mischung aus Propagandafassade und zur Schau gestelltem Wohlstand der neuen Reichen in China. Begeistert schildert uns eine junge Frau die Chancen, die ihr der Wohlstand der Familie eröffnet habe. Ihr Vater leite eine Fabrik vor Ort und habe ihr ein zweijähriges Studium in Neuseeland ermöglicht. Nach ihrer Heirat vor wenigen Wochen plane sie nun die Hochzeitsreise nach Rom. Ja, sie sei Christin, gehöre der örtlichen evangelischen Gemeinde an. Zugleich sei sie auch Mitglied der KP. Die Religion sei "für das Herz", die Partei aber „für die Verteilung der Verantwortlichkeiten".

Weiterfahrt mit dem Bus nach Shanghai. Dabei machen wir einen Zwischenstopp in Suzhou und treffen im buddhistischen Hanshan-Tempel mit Vertretern aller Religionsgemeinschaften in China zusammen.

In Anwesenheit von Funktionären der staatlichen Religionsbehörde heben alle hervor, dass die Politik die Tätigkeit der Religionsgemeinschaften unterstütze. Verschiedene Gesprächspartner machen deutlich, wie wichtig die Abwehr terroristischer Tendenzen sei. Ich muss daran denken, dass in der Provinz Xinjiang viele Muslime unter den Generalverdacht gestellt werden, Terroristen zu sein und mit welcher Härte seit Jahren der chinesische Staat dort gegen "separatistische Tendenzen" vorgeht. Auch in diesem Gespräch wird wieder deutlich, dass der Katholizismus in China und der Protestantismus als eine jeweils eigene Religion angesehen werden, wie dies beispielsweise auch in Indonesien der Fall ist. Schon dadurch, dass infolge unterschiedlicher Bibelübersetzungen katholischer und evangelischer Missionare zwei unterschiedliche Bezeichnungen für Gott verwendet werden (katholisch: Tian Fu = Himmlischer Vater; evangelisch: Shang Di = Höchster Herr), werden Katholiken und Protestanten nicht als Angehörige derselben Religion wahrgenommen. Wie schnell vergessen wir, dass man sich auch in Deutschland erst vor einigen Jahrzehnten zwischen den Konfessionen auf ein gemeinsames Vaterunser und ein gemeinsames Glaubensbekenntnis verständigen konnte.

15. Oktober

In Shanghai besuchen wir zunächst ein kirchliches Seniorenheim. Das Seniorenheim, in dem ca. 170 ältere Menschen in Einzel- und Doppelzimmern untergebracht sind, macht einen sehr guten Eindruck. Immer wieder spüren wir in Gesprächen mit kirchlichen und staatlichen Vertretern ein großes Interesse daran, die Zusammenarbeit und den Erfahrungsaustausch gerade im Bereich der kirchlich verantworteten Altenpflege auszubauen. Längst ist die

Überalterung der chinesischen Gesellschaft als ein zukünftig dramatisches Problem erkannt worden. Deshalb gibt es auch erste Lockerungen der "Ein-Kind-Politik". Diese Lockerungen sind in ihrer konkreten Ausgestaltung allerdings fragwürdig. So dürfen Eltern, die selbst keine Geschwister haben, in dem Fall, dass ihr erstes Kind "nur" ein Mädchen ist, nach vier Jahren einen weiteren "Versuch" unternehmen, um doch noch einen Jungen zu erhalten. Die Zahlen der geborenen Jungen und Mädchen legen die Vermutung nahe, dass in erschreckend großer Zahl weibliche Föten abgetrieben werden, nachdem in der Pränataldiagnostik das Geschlecht ermittelt wurde.

Besuch des "Kirchenamtes" des China Christian Council und der "Drei-Selbst-Bewegung". Wir sprechen mit der Pfarrerin Shengjie Cao, der Vorsitzenden des CCC, und Presbyter Jianhong Ji, dem Leiter der "Drei-Selbst-Bewegung". In einer modern gemachten Multi-Media-Präsentation – die der EKD noch fehlt – stellt man die eigene Arbeit dar. Der chinesische Staat achte die Religionsfreiheit; die staatlich anerkannten chinesischen Protestanten seien gute Patrioten. Auch hier ist das Bekenntnis zum Patriotismus an die Stelle des Bekenntnisses zum Sozialismus getreten. Deutlich sprechen die chinesischen Kirchenvertreter ihre Hauptsorgen an. Es fehlten vor allem theologisch ausgebildete kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Pfarrerinnen und Pfarrer für die wachsenden Gemeinden. Außerdem gibt es vielerorts zu wenig geeignete Kirchengebäude. Man ist fest entschlossen, die theologischen Ausbildungskapazitäten auszubauen. Bereits im Seminar in Nanjing hatte man uns die Pläne für einen Neubau geschildert, der bald in Angriff genommen werden soll und in dem 1.000 Studierende eine Ausbildung erhalten können. Die bisherige Zahl der Studentinnen und Studenten liegt bei knapp 200. Sehr interessiert ist man an einer intensiveren Zusammenarbeit mit der EKD in Fragen der Theologenausbildung. Allerdings sieht man in dieser Zusammenarbeit auch eine Möglichkeit, mit Hilfe der liberalen deutschen Theologie dem Einfluss angelsächsischer "Fundamentalisten" in China entgegenzuwirken. In dem Gespräch, das bei einem feierlichen Abendessen seine Fortsetzung findet, wird etwas deutlich, was bereits im Seminar in Nanjing erkennbar wurde: Was "postdenominationell" ist – und dies ist das Selbstverständnis des CCC – , ist theologisch weitgehend unbearbeitet geblieben. So werden verschiedene Formen der Taufe, allerdings nur der Erwachsenentaufe, nebeneinander angeboten. Allerdings wird der Verzicht auf die Kindertaufe –  zunächst eine Folge des staatlichen Verbots der „religiösen Beeinflussung von Minderjährigen“ –  zunehmend mit einem baptistischen Taufverständnis – erst der Glaube, dann die Taufe –  begründet. Beim Abendessen, das durch eine glänzende traditionelle Musikvorstellung umrahmt wird, zu der Bachs „Air“, gespielt auf einem traditionellen chinesischen Instrument, gehört, haben wir die Gelegenheit, Persönliches von den kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu erfahren. Eine Mitarbeiterin schilderte uns, wie sie als 15-jähriges Mädchen zu Beginn der Kulturrevolution von ihren Eltern getrennt und zur Landarbeit in eine weit entfernte ländliche Region geschickt wurde. Zehn Jahre blieb sie dort, bis sie nach dem Ende der Kulturrevolution die Möglichkeit eines Studiums erhielt. Als ihr nach dem Studium eine Stelle bei der Kirche angeboten wurde, fragte sie ihren Mann, ob die Annahme einer derartigen Stelle zu risikoreich sei, sollte es noch einmal eine zweite Kulturrevolution geben. Ihr Mann habe gesagt, eine zweite Kulturrevolution werde man ohnehin nicht überleben. Ich erinnere mich an Berichte , wonach nicht wenige Menschen in China die Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 vor allem deshalb hingenommen, ja nicht selten begrüßt hätten, weil nur so die Gefahr einer zweiten Kulturrevolution habe gebannt werden können.

Bootsfahrt „Shanghai by Night“

Imposant ist die hell erleuchtete Skyline, das international bekannte Symbol für den Wirtschaftsboom in China – ohne Zweifel. Viele Chinesen profitieren von dieser Entwicklung, auch wenn die Gegensätze zwischen Reich und Arm dramatisch zunehmen. Die Wirtschaft wächst und wächst. Verständlich, dass viele in Europa auch von diesem Boom profitieren wollen. Gerade hat Präsident Chirac China besucht. Aber Menschen sind wichtiger als Märkte. Wirtschaftsbeziehungen können zur weiteren Öffnung Chinas beitragen, dürfen aber nicht mit einer Leisetreterei in Sachen Menschenrechte erkauft werden. Beim Rückgang ins Hotel sehe ich in den Straßen ein paar spielende Kinder. Ich muss daran denken, dass dies infolge der „Ein-Kind-Politik“ des Staates alles Kinder sind, die ohne Geschwister aufwachsen, die in aller Regel aber auch keine Tante, keinen Onkel haben. Was geht einer Gesellschaft verloren, wenn wichtige familiäre Erfahrungen staatlicherseits untersagt werden? Wer fängt diese Menschen in persönlichen Krisen auf? Ich spreche mit einem chinesischen Begleiter über diese Beobachtung. Ja, das sei ein großes Problem. Zugleich verweist er auf das Dilemma der Überbevölkerung in China, aber auch auf erste „Lockerungen“ in der chinesischen Politik auf Grund der Überalterung.

16. Oktober

Besuch im East China Seminary in Shanghai

Der Direktor De-ci Su erläutert uns das Unterrichtsangebot der Ausbildungsstätte. 170 junge Menschen studieren auf dem im Jahr 2000 fertig gestellten großzügigen Campus. Es bestehen Kontakte zu theologischen Ausbildungsstätten in den USA und in anderen asiatischen Staaten. Mit dem nahe gelegenen katholischen Priesterseminar gebe es einen gewissen Austausch.

Mittagessen in der Residenz des deutschen Generalkonsuls Dr. Wolfgang Röhr

Überaus munter geht es bei dem Mittagessen in der Residenz des Generalkonsuls Dr. Röhr zu. Wir profitieren sehr von seiner anregenden Einführung in die aktuelle politische und wirtschaftliche Situation in China. Ausführlich sprechen wir über die Drohgebärden Pekings Taiwan gegenüber. Ein ganz wichtiger Gesprächspunkt ist für uns die Absicht der EKD, sobald wie möglich eine Pfarrstelle in Shanghai einzurichten, denn in keinem Ort in Asien leben mehr Deutsche. Doch noch immer ist die Entsendung eines Pfarrers und die Einrichtung einer Gemeinde rechtlich nicht möglich.

Gemeinsam mit Auslandsbischof Rolf Koppe und Professor Lackner besuchte ich den katholischen Bischof Jin in der St. Ignatius-Kathedrale, vor der wir viele junge Leute treffen. Bischof Koppe hat den katholischen Bischof bereits 1985 im Rahmen der ersten Ratsdelegationsreise nach China kennen gelernt, ihn zwischenzeitlich bei verschiedenen Deutschlandaufenthalten gesehen. Entsprechend herzlich fällt die Begrüßung aus. Bischof Jin formuliert demonstrativ ökumenisch: „ Wir sind doch alle Christen“.  Von 1952 bis 1979 war der Jesuit Jin eingesperrt. Nun ist er Bischof der mit dem Staat kooperierenden „patriotischen“ katholischen Kirche. Offiziell ist diese vom Vatikan getrennt. Gleichwohl spricht man allerorten vom „Heiligen Vater“, schließt den Papst vielerorts in der Messfeier in das Hochgebet ein. Es gibt teils freundschaftliche Kontakte in die katholische, „romtreue“ Untergrundkirche, die von den registrierten katholischen Kirchen zum Teil mit theologischer Literatur versorgt wird. Gleichzeitig gibt es bei den „Patrioten“ manche Bitterkeit darüber, von Vertretern der Untergrundkirche als „Verräter“ betrachtet zu werden. Der schwer herzkranke 89-jährige Bischof Jin spricht fließend Deutsch und kennt zahlreiche katholische Bischöfe in Deutschland. Ja, die katholische Kirche wachse in China. Zwar wachse man nicht so „explosiv“ wie der Protestantismus, dafür habe man aber keine Probleme mit „Häretikern“.

Deutschsprachiger Gottesdienst mit der ökumenischen christlichen Gemeinde Shanghai

Der Gottesdienst findet in einem Tennisclub statt. Gestaltet wird er vom evangelischen Pfarrer der deutschsprachigen Gemeinde in Peking und einem jungen katholischen Priester. Auch am Ende einer fast zweiwöchigen anstrengenden Reise ist Bischof Wolfgang Huber ein leidenschaftlicher Prediger. Dem Gottesdienst folgt ein sehr munteres Miteinander mit den Gemeindemitgliedern einer sich bewusst ökumenisch verstehenden Gemeinde, in der ein österreichisches Ehepaar, beides Katholiken, ebenso engagiert Verantwortung trägt wie ein deutscher evangelischer Pfarrer und seine Frau.

17. Oktober

Abflug von Shanghai
 
Der lange Flug gibt Gelegenheit zu  manchem Gespräch untereinander, aber auch erste Gelegenheit, die Gedanken zu ordnen:

Die rasant wachsenden christlichen Gemeinden erhalten in China immer mehr Entfaltungsmöglichkeiten. Dabei ist der staatlich anerkannte Protestantismus um eine Stärkung der kirchlichen Struktur und der kirchlichen Eigenständigkeit gegenüber Partei und Staat bemüht. Für die gewachsene Toleranz religiösen Betätigungen gegenüber auf Seiten der Politik in China dürfen wir dankbar sein. Hinter der Anerkennung des Menschenrechts auf Religionsfreiheit bleibt solche Toleranz freilich noch zurück. Unter der Unsicherheit der „Semi-Freiheit“ leiden vor allem die nicht-registrierten christlichen Gemeinden. Ein Staat, der angesichts wachsender sozialer Krisen und Orientierungsprobleme religiöse Aktivitäten begrüßt, muss erkennen, dass die christlichen Kirchen ihren Beitrag zur künftigen gesellschaftlichen Entwicklung Chinas dann am besten leisten können, wenn der Staat ihre Unabhängigkeit akzeptiert und eigene Kontrollansprüche aufgibt.

Unsere Solidarität beim Ringen um die Verwirklichung der Religionsfreiheit bleibt gefragt. Die Zusammenarbeit in der Theologenausbildung, gemeinsames Nachdenken über die gesellschaftliche Verantwortung der Kirche und eine Vertiefung des theologischen Dialogs könnten ein neues Kapitel im Miteinander begründen.  Kontakte zu den nicht-registrierten Hauskirchen müssen verstärkt werden, auch um ihre theologische Entwicklung besser einschätzen und gegebenenfalls  begleiten zu können. Es gilt aber auch: Wir können viel lernen von der Zuversicht einer wachsenden Kirche, in der die Zahl der Mitglieder und der Gottesdienstbesucher weitgehend identisch ist.